Pädagogin klagt Helikoptereltern an: „Überbehütung ist Vernachlässigung“
Die Pädagogin Beate Letschert-Grabbe geht hart mit Helikoptereltern ins Gericht: In Wahrheit würden sie ihre Kinder durch Überbehütung vernachlässigen.
Augsburg/Hamburg – Langeweile kommt mit Kindern eher selten auf. Schon gar nicht, wenn der eigene Nachwuchs noch jünger ist und viel Aufmerksamkeit bedarf. Oder liegt hier schon der Fehler? Wenn es nach der Pädagogin Beate Letschert-Grabbe geht, sollten Eltern ihren Kindern nämlich gar nicht so viel Aufmerksamkeit schenken, wie es die sogenannten Helikoptereltern tun. Dass sie ihre Kinder zu sehr behüten, sei schlecht für die persönliche Entwicklung der Kleinen – und mehr: Überbehütung sei so schlimm wie Vernachlässigung. Sollten also Millionen von Müttern und Vätern ihr Erziehungskonzept überdenken?
Helikoptereltern von Psychologin zerrissen: Kinder überbehüten ist Form der Vernachlässigung
Kinder müssten durchaus in ihren Bedürfnissen erkannt werden. Daran führt für die Pädagogin kein Weg vorbei. Wer diesem Bedürfnis nachgehe, hätte die Chance, dass sich seine Kinder auch wirklich weiterentwickeln. Eine Meinung, die Beate Letschert-Grabbe im Interview mit „Zeit Online“ vertritt. Dabei gilt: „Es ist sehr wichtig, ein Bedürfnis zu erkennen und mit dem Kind darüber zu sprechen“. Dabei sollten Eltern allerdings zwischen wirklichem Bedürfnis und bloßem Wunsch unterscheiden – was sie laut der Erziehungsexpertin aber meist eben nicht tun.

Warum werden Eltern zu Helikoptereltern – und was sind eigentlich Helikoptereltern?
Hiermit sind umgangssprachlich überfürsorgliche Eltern gemeint, die sich im Grunde permanent in der Nähe ihres Kindes aufhalten, ihm jeden Wunsch erfüllen, möglichst alles an Aufgaben abnehmen und kaum zur Selbstständigkeit erziehen. Der Nachwuchs wird also extremst behütet und überwacht. Wie ein Beobachtungshubschrauber, der um Kinder herumkreist, würden sich diese Eltern letztendlich verhalten und zeigen. Darum der Begriff „Helikoptereltern“.
Helikoptereltern am Pranger: Ständiges Verwöhnen wirkt auf Kinder „wie eine Droge“
Jeden Wunsch sollte man seinem Kind nicht erfüllen. Für Letschert-Grabbe ist das klar der falsche Weg. Kindern sollten auch mal auf die Nase fallen und sich danach am besten wieder selbst aufrichten. Keine Hilfe der Helikoptereltern, alles aus eigener Kraft. In diesem Kontext tätigt die Pädagogin folgende Aussage:
Überbehütung ist eine Form von Vernachlässigung.
Hiermit nimmt die Pädagogin vor allem überaus besorgte Mütter und Väter, also Helikoptereltern, in die Pflicht. „Niemand muss sofort, vollkommen und perfekt auf Bedürfnisse reagieren“, spricht Letschert-Grabbe die Grundhaltung von Eltern an. In diesem Kontext warnt sie auch von den Gefahren des Verwöhnens. Dies sei „wie eine Droge“ und Kinder, die alles bekommen, würden „keinen Sättigungspunkt“ kennen. Ganz anders verhält es sich bei einem Siebenjährigen, dessen Mutter Miete von ihm verlangt – damit er schon früh Verantwortung lernt. Und auch der Mutter, die als „Lektion“ Geld von ihren Kindern für das Weihnachtsessen verlangt, kann man wohl kein übermäßiges Verhätscheln vorwerfen.
Helikoptereltern sollten Gespräch mit ihrem Kind suchen – und es auch mal herausfordern
Viel besser sei es, auch mal das Gespräch mit seinem Kind zu suchen, es vielleicht sogar herauszufordern. Das gilt natürlich nicht nur für Helikoptereltern, sondern ist vielmehr ein Appell an alle Erziehungsberechtigte, sich auf mehr Kommunikation zu besinnen. Schließlich komme „in vielen die Familien zu kurz, weil Zeit und Ruhe fehlen“.
Um sich untereinander auszutauschen und die Kommunikation zwischen Eltern und Kindern zu verbessern, könne sogar ein positiver Aspekt in der Corona-Pandemie ausgemacht werden. Schließlich hätten Homeoffice und Homeschooling „manche Eltern und Kinder bei allem Stress einander auch nähergebracht“.
Erziehung Augenhöhe statt Helikoptereltern: „Pflichten und Verantwortung übernehmen lassen“
Helikoptereltern haftet also der Ruf an, überfürsorglich zu sein und seinen Kindern möglichst viel abnehmen zu wollen. Das Verwöhnen sollte laut Letschert-Grabbe aber nicht zu exzessiv betrieben werden. Viel lieber sollten Eltern ihre Kinder auch „Pflichten und Verantwortung übernehmen lassen“. Dann würden sich Kinder wichtig fühlen und auch etwas dazu lernen.
Das führt die Pädagogin erneut zum Punkt der Vernachlässigung. Damit meint sie nicht zwingend „ein unterversorgtes Kind, das ungewaschen in die Schule kommt und kein Pausenbrot dabeihat“. Nein, vielmehr könne sich Vernachlässigung in den verschiedensten Formen äußern. Beispielsweise, wenn Eltern gegenüber ihren Kindern Interesse nur vortäuschen und Versprechen abgeben, die sie nicht einhalten. Denn „dann vernachlässigen sie ihre Kinder“.
Überbehütung genauso schädlich für Kinderpsyche wie Vernachlässigung – These bei Kinderpsychologen verbreitet
Die Pädagogin Letschert-Grabbe steht mit ihrer zunächst krass wirkenden These längst nicht alleine dar. Denn Kinderpsychiater sind sich einig: Kindern, die von ihren Helikopter-Eltern überbehütet werden, sind genauso von psychischen Erkrankungen geplagt wie vernachlässigte Kinder. Einerseits gibt es viele Eltern, die ihr Kind ohne Ende umsorgen und dessen Zukunft fest im Griff haben wollen. Doch hat die Medaille bekanntlich auch immer eine Kehrseite – und zahlreiche Kinder landen wegen Verhaltensauffälligkeiten in den Praxen von Familientherapeuten.
Kinder-Psychiater sind auf jeden Fall zu dem Schluss gekommen, dass Überbehütung einen ähnlichen Schaden in einer Kinderseele verursachen kann wie Vernachlässigung. Der Begriff „Überbehütung“ wurde dabei bereits 2001 entscheidend von der US-amerikanischen Familientherapeutin Wendy Mogel geprägt. In ihrem Buch „The Blessings of a Skinned Knee: Using Jewish Teachings to Raise Self-Reliant Children“ beschrieb sie, wie sie moderne Eltern von umsorgten Kindern aus der Mittelschicht in ihrer Praxis wahrnahm.
Sklavisches Verhalten von Helikoptereltern mit negativen Auswirkungen auf ihre Kinder
Ihre größte Erkenntnis: Helikoptereltern konzentrieren sich fast schon sklavisch auf das „Mikromanagement“ der wechselnden Launen ihres Kindes. Mal auf spontane Ängste, mal auf materielle Forderungen. Fehler der Kinder würden ausgebügelt, dazu intervenierten die Eltern gar bei Lehrern und Schulleitern. Ein Phänomen, das Mogel als „Over-Parenting“ bezeichnet. Ganz anders agiert da der Vater, der seine Tochter Kilometer weit zur Schule laufen lässt, weil sie Mitschüler mobbte. Auch eine Mutter zog kürzlich harte Seiten auf: Weil sie fies zu einem Obdachlosen war, musste ihre 14-jährige Tochter draußen schlafen.
Die überbordenden Anforderungen an das Kind sowie der ungeheure Bildungsdruck wirken sich als Konsequenz negativ auf den eigenen Nachwuchs aus. Die Kinder können zu Bettnässern werden, Essstörungen, ADHS oder massive Schulprobleme entwickeln. Ein Ausweg aus der Misere? Eine Erziehung hin zu emotionaler Stabilität, Widerstandsfähigkeit und Selbstständigkeit. Das hat Mogel zumindest vor mehr als 20 Jahren empfohlen.
Mehrere Pädagogen wettern gegen Helikoptereltern: Sie machen aus Kindern „aufgeweichter Jammerlappen“
Mit Kritik an und Schuldzuweisungen in Richtung von Helikoptereltern geizt aber auch Rüdiger Maas nicht. Der Psychologe und Generationenforscher sieht Kinder so unselbstständig und orientierungslos wie noch nie zuvor. Der Pädagoge Albert Wunsch zerreißt die heutige Kindererziehung, da sie letztendlich eine Generation „aufgeweichter Jammerlappen“ produziere. Ganz so harsch zeigt sich Maas in seiner Wortwahl zwar nicht. Doch lässt auch er seinen Unmut freien Lauf – und hält sich mit Ratschlägen nicht zurück:
Auf die heiße Suppe pusten, kann schon ein kleines Kind – und es kann lernen, sich selbst anzuziehen.
Maas und sein Forschungsteam am Institut für Generationenforschung in Augsburg hätten Daten vorliegen, nach denen inzwischen jedes dritte Kind Verhaltensauffälligkeiten zeige. Auch der Psychologe vertritt die Meinung, dass dem Nachwuchs schon im Kleinkind-Alter zu viel abgenommen wird.
Helikoptereltern „müssen Kinder ernst nehmen“ – Tipp von Experte Rüdiger Maas
Gut, frei von drastischen Formulierungen ist Rüdiger Maas dann doch nicht. Sein neuestes Buch trägt den Titel „Generation lebensunfähig. Wie unsere Kinder um ihre Zukunft gebracht werden“. Der Psychologe warnt: Wir erziehen eine Generation von unglücklichen Kindern.
Der Bock könne aber noch umgestoßen werden. Einen Tipp für die heutige Generation an Eltern hat Maas im Gespräch mit „Focus Online“ auf jeden Fall parat: „Wir müssen die Kinder ernst nehmen – und zwar als Kinder ernst nehmen. Wir müssen ihnen die Chance geben, sich zu beweisen“. Damit es am Ende nicht zu viele vernachlässigte Kinder gibt, deren Helikoptereltern es zwar nur gut meinten, jedoch zu viel des Guten wollten.