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Der Ukrainer Sascha Tkatschenko ist bald bei Werder: Ein Traum in Grün und Weiß

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Von: Malte Rehnert

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Sascha Tkatschenko zeigt im Werder-Trikot einen Werder-Schal
Viel Grün auf den Feldern, viel Grün und Weiß an Sascha Tkatschenko: Fürs Foto präsentiert der junge Ukrainer einen Schal seines Bald-Vereins – und schlüpft in ein kultiges Werder-Trikot aus den späten 80er-Jahren, als er selbst noch gar nicht geboren war. Ab Sommer wird er dann die aktuelle Kollektion tragen. © Rehnert

Sascha Tkatschenko ist im März mit seiner Familie aus Charkiw in der kriegsgeplagten Ukraine geflohen. Nun leben sie in Neuenkirchen im Landkreis Diepholz - und der 14-Jährige kann endlich wieder Fußball spielen. Aktuell bei der JSG Sulingen, ab Sommer in der U15 von Werder Bremen. „Ein Traum“, sagt Tkatschenko bei einem Hausbesuch dieser Zeitung. Es wurde gelacht und geweint, ein Ex-Profi dolmetschte. Und Werder freut sich schon riesig auf das große Talent.

Neuenkirchen – Nach dem über einstündigen Gespräch – mit schönen und extrem schweren Themen, mit Lachen und Weinen – geht’s erst mal raus an die frische Luft. Fotos machen im Hof. Und ganz schnell kommt dann auch ein Ball ins Spiel. Das ist eben so bei Sascha Tkatschenko. Er wirkt sehr zurückhaltend und spricht leise. Aber wenn er die Kugel elegant hochhält, sie tänzeln lässt oder in seinem Nacken stoppt, ist er glücklich. Das verrät das selige Grinsen in seinem Gesicht. 14 Jahre ist der schlaksige Junge (1,78 Meter) alt – und doch hat er mit seiner Familie schon einiges erlebt. Oder besser: durchgemacht. Die Flucht aus der Ukraine, das neue Leben in einem bisher völlig fremden Land. Heftig, das alles zu verarbeiten. Und doch hat Tkatschenko schnell einen wichtigen Anker gefunden: seinen geliebten Fußball. Ab Sommer wird er für die U 15 von Werder Bremen spielen. „Das ist so etwas wie ein Traum für mich“, betont Tkatschenko: „Ich bin sehr dankbar und glücklich, dass ich diese Chance bekomme.“

Ein Besuch in Neuenkirchen. Hier am Ortsrand, umgeben von Feldern, wohnt die Familie in einem idyllisch gelegenen Haus. Vermieterinnen sind Anna und Jenny Weidlich, im ersten Stock haben die Tkatschenkos eine eigene Etage für sich: Sascha und sein Bruder Wowa (9), Mutter Natalia, Tante Irina und Oma Wera. Sie kommen aus der zweitgrößten ukrainischen Stadt, dem nordöstlich gelegenen Charkiw, und leben seit dem 26. März mitten auf dem Land. Nur das Nötigste haben sie mitgenommen. Was schnell zu packen war.

Wohnzimmer-Runde: Sascha Tkatschenko, Mutter Natalia (2.v.r.) und Tante Irina empfingen (v.r.) Sascha Jäger, Sergiy Dikhtyar und Kreiszeitungs-Sportredakteur Malte Rehnert in Neuenkirchen.
Wohnzimmer-Runde: Sascha Tkatschenko, Mutter Natalia (2.v.r.) und Tante Irina empfingen (v.r.) Sascha Jäger, Sergiy Dikhtyar und Kreiszeitungs-Sportredakteur Malte Rehnert in Neuenkirchen. © Rehnert

Weil sie alle fast kein Deutsch sprechen, stößt ein perfekt geeigneter Dolmetscher dazu: Sergiy Dikhtyar, Ex-Fußballer. Der 46-Jährige stammt aus Kiew, kam damals mit 17 nach Gelsenkirchen und war Profi bei Schalke 04, Wattenscheid 09 und dem 1. FC Saarbrücken. Gegen Ende seiner Karriere spielte er beim BSV Rehden und ist nun Coach beim Bezirksligisten TuS Wagenfeld. Bei der Anfrage, ob er unterstützen kann, sagte Dikhtyar sofort zu: „Wenn ich helfen kann, helfe ich.“ Als seine Frau Nataly und er aus Rehden in Neuenkirchen ankommen, beginnen sofort angeregte Gespräche. Das reinste russische Stimmengewirr. Da versteht auch Sascha Jäger kaum ein Wort. Der Coach des FC Sulingen hat Tkatschenkos Wechsel von der JSG Sulingen nach Bremen angeschoben und ist ebenfalls dabei.

Werder ist begeistert: „Sascha macht richtig viel Spaß“

Bei seinen ersten Trainingseinheiten in Bremen hat Sascha Tkatschenko direkt einen bleibenden Eindruck hinterlassen. „Der kann was. Die sportliche Bewertung war eindeutig – sehr, sehr positiv. Er macht richtig viel Spaß“, schwärmt Björn Schierenbeck, Leiter von Werders Nachwuchsleistungszentrum. Auch Jugendkoordinator Thorsten Bolder und U 15-Trainer Markus Fila seien angetan gewesen von den Fähigkeiten des jungen Ukrainers. „Und über die Empfehlung von Sascha Jäger haben wir uns auch sehr gefreut“, ergänzt Schierenbeck. Man wolle die Familie und den 14-Jährigen nun näher kennenlernen und schauen, ob und wie ihnen auch abseits des Platzes zu helfen ist. „Wir versuchen immer zu unterstützen“, betont Schierenbeck. Versprechen könne er den Tkatschenkos aber nicht geben. Man müsse abwarten, wie sich das Ganze entwickelt. „In erster Linie“, sagt er, „geht’s um Fußball“.

Auch beim ukrainischen Mittagsmenü, zu dem die gastfreundliche Familie zum Abschluss des Besuchs einlädt: Borschtsch, Brothäppchen mit Gurke, Ei und Fisch, Kartoffelgratin mit Pilzen, danach Kaffee und Kuchen.

Vorher haben alle im kleinen Wohnzimmer zusammengesessen. Dort wird es ernst. Thema ist die Flucht aus dem Heimatland – mit dem Bus über Polen nach Diepholz. Wie sehr es die Familie mitnimmt, zeigen die Emotionen. Schon bei der ersten Frage laufen Natalia Tkatschenko die Tränen an den Wangen herunter. Aus ihrer Stimme klingt auch Wut. „Wir waren total schockiert, als der Krieg ausbrach. Keiner wusste, wie lange es dauert, wie schlimm es wird. Es war so schrecklich, man kann es mit Worten gar nicht beschreiben“, erzählt sie. Für einen Moment sind alle still.

Gruppenbild mit Vermieterinnen: Die Familie Tkatschenko steht mit Familie Weidlich im Garten des Hauses in Neuenkirchen. Anna und Jenny Weidlich - mit den beiden Jungs Ilias und Adrian - haben die obere Etage des Hauses zur Verfügung gestellt.
Gruppenbild mit Vermieterinnen: Die Familie Tkatschenko steht mit Familie Weidlich im Garten des Hauses in Neuenkirchen. Anna und Jenny Weidlich - mit den beiden Jungs Ilias und Adrian - haben die obere Etage des Hauses zur Verfügung gestellt. © Rehnert

Schüsse fielen, Bomben schlugen ein. Die Familie versteckte sich immer wieder in Kellern und U-Bahn-Stationen. Um zu überleben. „Man dachte: Das ist ein Alptraum, das ist nicht die Wirklichkeit. Und man hat sich total verloren gefühlt“, sagt Natalia Tkatschenko. Zu Verwandten und Bekannten in der Heimat hält die 44-Jährige via Internet und Telefon regelmäßig Kontakt („mehrmals täglich“). Die dritte Schwester ist nach wie vor in der Ukraine. Sie wollte bei ihrem Mann bleiben, der das Land nicht mehr verlassen durfte.

Tkatschenko hat in Charkiw als Floristin gearbeitet und am Valentinstag traditionell sehr viel zu tun gehabt – ein paar Tage später griff Russland an. Sohn Sascha war im Fußball-Internat des Erstliga-Clubs Metalist Charkiw und wurde wie viele andere abgeholt, als der Krieg losging. Zur Sicherheit.

Der Fußball, das übersetzt Dikhtyar, fehlte dem 14-Jährigen seither besonders. „Irgendwo ein bisschen kicken“ wollte er. Das macht er nun mit seinem kleinen Bruder in der Einfahrt – und seit Anfang April bei der Sulinger Jugendspielgemeinschaft. Dort fiel Jäger dessen fußballerische Klasse auf: „Ich habe ihn fünf Minuten auf dem Platz gesehen und wusste: Der ist zu gut und hier falsch. Sascha hat eine unfassbare Vororientierung, kann ein Spiel lesen, beide Füße sind unglaublich stark. Und er hat eine erstaunliche Ruhe am Ball.“

Die beiden kannten sich schon aus der Schule in Schwaförden. Jäger ist Lehrer und hat Tkatschenko in seiner Erdkunde-Klasse. Wobei: Geografie lernt er aktuell wenig, auf dem Programm steht vor allem Deutschunterricht – und in der Freizeit natürlich Fußball. „Ich habe gemerkt, dass ich ihm helfen muss – und dass ich damit bestimmt nichts falsch mache“, sagt Jäger: „Und über den Fußball lernen die Jungs auch schneller die Sprache, sind sofort integriert.“

Kicken auf dem Hof: Sascha Tkatschenko, sein Bruder Wowa (spielt in Sulingen) und Sascha Jäger schauen zu, wie Ex-Profi Sergiy Dikhtyar den Ball hochhält.
Kicken auf dem Hof: Sascha Tkatschenko, sein Bruder Wowa (spielt in Sulingen) und Sascha Jäger schauen zu, wie Ex-Profi Sergiy Dikhtyar den Ball hochhält. © Rehnert

Er redete mit den Sulinger JSG-Verantwortlichen Andreas Lüdeke und Dominic Brock, die Tkatschenko bei der Integration „toll unterstützt“ haben. Er nahm Kontakt zu Werder auf und fuhr mit dem jungen Ukrainer zum Probetraining. Der zentrale Mittelfeldmann, dessen Schwäche nach eigener Aussage noch die Geschwindigkeit ist, überzeugte auch die Bremer Verantwortlichen auf Anhieb. Ab 1. Juli läuft er für die U 15 in der Regionalliga Nord auf. 

Seinen neuen Verein kennt Tkatschenko – obwohl er 2009 noch viel zu klein war, als die Bremer im Endspiel des Uefa-Cups standen. Aber weil der Gegner (und Sieger) Schachtar Donezk hieß und es mit Dynamo Kiew und seinem Club Metalist Charkiw noch zwei andere Clubs weit schafften, bleibt diese Saison in der Ukraine unvergessen.

Pass zu mir oder Ja, Ja – das kann ich schon. Ansonsten verständigen wir uns mit Händen und Füßen und ein bisschen Englisch.

Sascha Tkatschenko über die Kommunikation beim Fußball

So erfolgreich möchte auch Tkatschenko irgendwann mal sein. „Ich will Fußball-Profi werden“, sagt er. Seine Lieblingsvereine sind der FC Barcelona, Real Madrid und Manchester City. Sein Vorbild ist Cristiano Ronaldo.

Mama Tkatschenko würde sich freuen, wenn es klappt mit einer Karriere ihres Sohnes. Und wenn sie bald Arbeit finden und die Familie in eine größere Stadt ziehen könnte. Dann bleibt sie vielleicht – eine Aufenthaltserlaubnis vorausgesetzt – dauerhaft in Deutschland. „Es ist momentan ganz schwierig, Pläne zu machen“, findet Natalia Tkatschenko. Wenn sie einen Wunsch frei hätte, dann den, ihren Sohn irgendwann in der Bundesliga zu sehen und von der Tribüne aus anzufeuern.

Doch dafür, mahnt Ex-Profi Dikhtyar am Ende der Wohnzimmer-Runde, braucht es nicht nur außergewöhnliches Talent. „Neben der Sprache ist das Wichtigste, die richtige Mentalität, die nötige Disziplin und Charakterstärke zu haben – wie es in Deutschland meistens ist.“ In Osteuropa gebe es viele gute Nachwuchsfußballer, bei denen es genau daran mangele. „Talent ist das größte Geschenk“, meint Dikhtyar: „Man muss aber auch damit umgehen können.“ Sind die Tipps angekommen? Dikhtyar dolmetscht gestenreich und gefühlt drei Minuten für Tkatschenko und antwortet: „Er sagt: Ja!“

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