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Pingpong gegen Parkinson

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Von: Malte Rehnert

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Er hat ihn noch, seinen Tischtennis-Spielerpass von 1978: Lars Rokitta sitzt in der Paletten-Lounge und zeigt das gute Stück – neben ihm liegt Hund Fiete.
Er hat ihn noch, seinen Tischtennis-Spielerpass von 1978: Lars Rokitta sitzt in der Paletten-Lounge und zeigt das gute Stück – neben ihm liegt Hund Fiete. © rehnert

Die Alarmglocken schrillen. An einem Dienstagmorgen hat Lars Rokitta Lähmungserscheinungen im linken Arm, sein Hausarzt schickt ihn direkt in die Klinik nach Rotenburg. „Ich dachte, ich habe einen Schlaganfall“, erinnert sich der Eystruper. Doch nach einer Woche stationärem Aufenthalt erhält er – ausgerechnet an seinem 49. Geburtstag am 22. Juli 2015 – eine andere Diagnose, die sein Leben für immer verändert: Parkinson.

Eystrup – „Das war ein Schlag ins Gesicht – und es sind auch viele Tränen geflossen. Wie geht es weiter? Wer kann mir helfen? Wie sehr kann ich meine Kinder noch aufwachsen sehen? Das waren meine Sorgen“, verrät Rokitta: „Aber ich habe eine tolle Familie und tolle Freunde, die mich aufgefangen haben.“ Und er sei, das fügt er sogleich an, jemand, der „immer vorangeht“, positiv denkt – und sich von der unheilbaren Krankheit nicht kleinkriegen lassen will.

Viele reden nur ungern über solch sensible Themen, schon gar nicht öffentlich. Der frühere Fußballer des TSV Eystrup und der SG Hoya, den sie damals „Rocky“ nannten, hat sich für einen anderen Weg entschieden. „Akzeptiert habe ich es bis heute nicht“, sagt Rokitta, „aber ich laufe auch nicht durch die Gegend und frage mich ständig: Warum ich? Es ist eben so. Punkt. Aus. Ich versuche, das Beste daraus zu machen.“ Etwa eine Stunde lang lässt er im sehr persönlichen Gespräch keine Frage unbeantwortet – auch wenn einige ihm wehtun müssen. Kein Hadern, kein Klagen. Stattdessen lächelt er viel. Und seine Offenheit ist beeindruckend.

WM-Champion
wirbt für Eystrup

Die PingPongParkinson-WM hat Lars Rokitta geradezu beflügelt – und dazu animiert, in seinem Heimatort Eystrup mit dem dortigen TSV selbst eine Veranstaltung für Parkinson-Erkrankte auf die Beine zu stellen. Am Samstag, 30. April, ist es so weit.

Teilnehmer aus Deutschland, Schweden, den Niederlanden, Portugal und vielleicht sogar den USA werden erwartet. Die 48 Startplätze waren binnen kürzester Zeit vergeben. Das Orga-Team – bestehend aus Jürgen Dieckhoff, Christian Kautz, Christoph Back, Ralph Werfermann und Rokitta – ist überwältigt.

Der Verein PingPongParkinson (PPP) existiert in Deutschland seit 2020 und hat inzwischen um die 500 Mitglieder. Zu den Unterstützern gehört auch Oliver Rokitta, Cousin von Lars, der in der Gründer-TV-Show „Die Höhle der Löwen“ mit „Rokitta‘s Rostschreck“ bekannt wurde und inzwischen auch eine Kaffeerösterei betreibt. Er ist Turniersponsor, zahlt unter anderem dem Sieger die Hotelkosten bei den vier Wochen später stattfindenden German Open von „PPP“.

Für die Tombola hat Lars Rokitta schon reichlich Preise organisiert: von Borussia Dortmund, dem FC Bayern – oder auch Jörg Roßkopf, der drei signierte Tischtennisschläger schickte. Rokitta staunt: „So viel Unterstützung – Wahnsinn.“

Es gibt sogar eigene Werbe-Trailer für das Turnier (auf Youtube Lars Rokitta eingeben). In einem davon empfiehlt Mattias Falck, schwedischer Doppel-Weltmeister in Diensten von Werder Bremen, mit einem breiten Grinsen: „Come to Eystrup.“

Die Organisation macht Rokitta sichtlich Spaß – und er schwärmt von seinem wiederentdeckten Hobby: „Tischtennis und PingPongParkinson sind wie eine neue Heimat für mich.“ Kürzlich war er mit „PPP“ bei Bundesligist Borussia Düsseldorf zu Gast und sah Timo Boll live spielen. „Er ist der Hammer“, meint Rokitta, „und auf der Tribüne saß noch Dirk Nowitzki“. mr

Blauer Trainingsanzug, blaues Shirt, blaue Turnschuhe – so sitzt Rokitta an diesem sonnigen März-Tag mit einer Tasse Kaffee in der Hand im großen Garten seines Hauses in Eystrup. Von der gemütlichen Paletten-Lounge aus sieht man den runden Aufstellpool und das graue Häuschen, in dem sich eine Sauna versteckt. Direkt daneben hat er die Tischtennisplatte verstaut, die er bei gutem Wetter regelmäßig rauszieht und aufbaut. Als Gegner taugt jeder, der gerade in der Nähe ist.

Nach 38 Jahren Pause hat Rokitta wieder zur Sportart aus seiner Jugendzeit gefunden, ist auch beim TSV Eystrup aktiv, fast täglich an der Platte. „Das hätte ich niemals gedacht“, staunt er: „Aber Tischtennis ist eben gut gegen Parkinson. Man muss sich bewegen und sofort reagieren, wenn der Ball kommt.“ Studien aus Japan belegen die klaren Verbesserungen der koordinativen Fähigkeiten, wenn man regelmäßig schmettert und schupft. „Es erhöht die Bewegungsqualität“, unterstreicht Rokitta.

Ein Beispiel: Sein linker Arm hing beim Gehen nur herunter statt mitzuschwingen. „Durch Tischtennis, weil ich auch mit links spiele, bin ich in Gang gekommen, er bewegt sich wieder mit.“ Und nicht nur das: Mittlerweile darf sich der 55-Jährige sogar Weltmeister nennen.

Das ist Parkinson

Die bislang nicht heilbare Krankheit ist nach dem englischen Arzt James Parkinson benannt, der sie erstmals 1817 als „Schüttellähmung“ beschrieb. Charakteristisch ist ein langsam fortschreitender Verlust von Nervenzellen im Mittelhirn – dadurch hervorgerufen werden Beschwerden wie Bewegungsstörungen, Steifheit und Zittern, um nur einige zu nennen. An Parkinson sind in Deutschland aktuell etwa 400 000 Menschen erkrankt. mr

Wenn man Rokitta so erlebt, kommt man nicht direkt auf die Idee, dass er krank ist. „Viele merken es mir gar nicht an“, sagt er. Doch bei genauerem Hinsehen und -hören fällt dann doch auf: Die Haltung ist leicht gebeugt. Die Stimme stockt manchmal ein wenig, dann galoppiert sie geradezu: „Und ich nuschele auch ein bisschen.“ Das Sprechen strengt ihn mehr an als früher, das Schreiben ebenfalls: „Die Schrift wird immer kleiner, bis ich sie gar nicht mehr lesen kann. Die Hand wird eben steif.“

Weil in seiner rechten Hirnhälfte Nerven absterben, ist die linke Seite seines Körper stärker betroffen – so erklärt er es. Rokitta steht auf, klimpert mit den Fingern der rechten Hand. Sieht ganz normal aus. Mit links sind die Bewegungen jedoch langsamer. Deutlich sogar. Zudem falle das Gehen auf Dauer schwer. Und er schlafe schlechter, manchmal nur eine Stunde pro Nacht – alles Parkinson-Symptome. Rokitta leidet unter dem Krankeitsbild Rigor. Es gibt auch noch Tremor, bei dem Betroffene auffällig zittern. Wie die 2016 verstorbene Box-Legende Muhammad Ali oder Schauspieler Michael J. Fox.

Bei Rokitta entdeckte sein bester Freund Rainer Ahlers die ersten Anzeichen 2015, weil er Gabel und Messer beim Essen langsam führte: „Er hat mir gesagt: ,Lars, mit dir stimmt doch was nicht.‘ Ich habe das selbst gar nicht bemerkt.“ Wenig später kam der bereits erwähnte Dienstagmorgen mit den Lähmungserscheinungen und dann die Diagnose: „Zuerst habe ich ganz normal gearbeitet und dachte: Ich lebe auch so weiter wie bisher. Aber so war es dann leider doch nicht.“

Im Job als selbstständiger Baufinanzierungsberater in einer Bank wurde Rokitta zunehmend unkonzentrierter. Er, der zum Teil über Millionensummen zu entscheiden hatte, habe den einen oder anderen Fehler gemacht. 2019 ging er für sechs Wochen in eine psychosomatische Klinik nach Bad Bramstedt, um zu lernen, wie er mit seiner Krankheit besser umgehen kann. Heftig sei der Aufenthalt gewesen, isoliert von der Außenwelt, mit vielen durch Kriege traumatisierten Soldaten. Aber eben auch lehrreich: „Ich habe viele getroffen, die mir etwas mitgeben konnten.“

Ende 2019 entschied sich Rokitta, seine Arbeit, an der er sehr hing, aufzugeben. „Die konnten mich dort einfach nicht mehr gebrauchen“, sagt er mit einem bittersüßen Lächeln. Zwei Jahre war er krankgeschrieben, hatte im Vorjahr auch noch Corona (milder Verlauf). Seit Februar 2022 ist er offiziell berufsunfähig.

Seine ehemalige Kollegin Anja Meier aus Langwedel habe ihm in dieser schwierigen Zeit sehr geholfen – und ihn auch auf die Idee gebracht, doch mal wieder an die Tischtennisplatte zurückzukehren. In Meiers WhatsApp-Nachricht war die Anmeldung zu einer besonderen Weltmeisterschaft drin – die der Initiative „PingPongParkinson“, gegründet von Nenad Bach (68). Der Amerikaner mit kroatischen Wurzeln ist Musiker und stand einst mit U2 und Luciano Pavarotti auf der Bühne. Doch Parkinson beendete seine Karriere als Gitarrist. Zu Bach, dem der Sport ebenfalls enorm gut tut und der die erste WM 2019 in New York initiierte, hat Rokitta inzwischen regelmäßig Kontakt.

Bei der Weltmeisterschaft in Berlin trat der Eystruper dann tatsächlich an. Mit der Kölnerin Petra Scheurig, die er erst eine Woche zuvor bei den German Open in Nordhorn kennengelernt hatte. Und sie schnappten sich den Titel im Mixed. „Eine verrückte Sache“, findet Rokitta.

Steckbrief: Lars Rokitta

Alter: 55 Jahre

Familienstand: verheiratet mit Katrin (seit 25 Jahren), die Söhne Eric (1998) und Sven (2001) sind Fußballer beim TSV Eystrup

Beruf: gelernter Bankkaufmann, freier Handelsvertreter, seit Februar 2020 berufsunfähig

Stationen als Fußballer: TSV Eystrup (1972 - 1989 und seit 1998 bis heute Mitglied), SG Hoya (1989 - 1998), SC Haßbergen (2004/05)

Hobbys: Freundschaften pflegen, Musik hören, Garten

Auf einmal hält er kurz inne. Man spürt, dass er gegen die Tränen ankämpft. Warum, erzählt er dann. Kurz vor dem Turnier war sein Vater Manfred gestorben, der ihn damals zum Tischtennis gebracht hatte. Deshalb stand auf seinem Trikot „Danke, Papa“. Die Weltmeisterschaft half ihm auch ein wenig bei der Trauerbewältigung. Das Schönste für ihn: Dass viele Familienmitglieder dabei waren. Er lächelt und sagt: „Acht Rokittas auf der Tribüne, darunter meine Mama – mit 84 Jahren.“

Der Erfolg in Berlin hat Appetit auf mehr gemacht, für dieses Jahr stehen noch das selbst organisierte Turnier in Eystrup (siehe Text rechts) sowie die Portugal Open, die German Open in Bad Homburg und die nächste WM im September in Kroatien auf der Tischtennis-To-do-Liste.

Titel und Triumphe nimmt er natürlich gerne mit, noch wichtiger als der Sport ist Rokitta jedoch das Miteinander. Es sei „eine Art Selbsthilfegruppe. Da geht es bei Wettkämpfen nicht primär darum, ob der Ball auf der Platte oder im Netz landet – sondern darum: Wie wirkt diese oder jene Tablette bei dir?“

Er selbst kann dann immer Positives berichten. Bei ihm schlagen die Medikamente gut an. „Levodopa ist unser Glück“, betont Rokitta. Der darin enthaltene Botenstoff Dopamin helfe, „uns glücklicher zu machen“ und die Beschwerden zu lindern. Fünf Tabletten schluckt Rokitta pro Tag – um 7, 11, 15 und 19 Uhr. Eine halbe Stunde vor oder eine Stunde nach dem Essen, „sonst wirken sie nicht richtig“. Wenn er sie vergisst, „würde ich steif irgendwo rumsitzen“. Neulich habe er sie zu spät genommen und sich beim Tischtennis-Training dann gefühlt, „als hätte ich Magnete in den Füßen“.

Solche unangenehmen Situationen kann er meistens vermeiden – durch Medikamente und Bewegung. Fußball spielt der HSV-Fan zwar nicht mehr, „weil ich Angst habe, dass ich stolpere“. Aber er ist viel mit Hund „Fiete“ unterwegs, fährt mit der Eystruper Altliga-Fußballtruppe oft Fahrrad und geht – „weil es gegen Parkinson hilft“ – in der kalten Jahreszeit beinahe täglich in die Sauna.

Wenn die Beschwerden und Beeinträchtigungen zunehmen, würde sich Rokitta, um gegenzusteuern, wohl auch unters Messer legen. Sein Tischtennis-Kumpel Maik Gühmann („Er ist Ping, ich bin Pong“) hat wegen Parkinson früher im Rollstuhl gesessen, ließ dann – bei vollem Bewusstsein – im UKE in Hamburg eine 19-stündige OP machen, bei der der Schädel aufgebohrt und „viele Kabel“ (Rokitta) eingesetzt wurden. Ein Schrittmacher fürs Gehirn sozusagen. Inzwischen ist Gühmann ein wahrer Sportfreak. „Es kann eine große Hilfe sein“, meint Rokitta mit Blick auf die Operation, „und ich ich wäre auf jeden Fall bereit, es auch durchführen zu lassen. Garantiert.“

Momentan kreisen seine Gedanken jedoch nicht allzu sehr darum, was in ferner Zukunft sein könnte und ob es irgendwann tatsächlich Methoden gibt, die tückische Krankheit entsprechend aufzuhalten. Fortschritte bei der Erforschung sind ja durchaus gegeben. Nein, ihn interessiert die Gegenwart – und was nach dem Turnier in Eystrup kommt. Rokitta sprüht aktuell enorm vor Tatendrang.

Abschließend gefragt nach einem kleinen Match an der Garten-Platte, klappt er sie sofort auf, holt schnell Bälle und zwei Schläger. Und los! „Ich muss draußen sein, gucke auch fast nie Fernsehen“, sagt er. Durch den Sport, den er nach langer Pause wieder gut beherrscht, blüht er auf. Tischtennis als Therapie? „Ja!“, erwidert Rokitta prompt: „Das ist genau die richtige Beschreibung.“

Viele Rokittas in Berlin – auf der Tribüne als Unterstützung bei der Tischtennis-WM von PingPongParkinson.
Viele Rokittas in Berlin – auf der Tribüne als Unterstützung bei der Tischtennis-WM von PingPongParkinson. © rokitta

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