Wissler reist zur HDP in die Türkei: „Braucht sichtbare Zeichen der Solidarität“
Aus Solidarität mit der HDP reist Linken-Chefin Janine Wissler in die Türkei. Im Gespräch kritisiert sie mangelnde Solidarität der Ampel – und Zugeständnisse an Erdogan.
Ankara – Auf Einladung der HDP hat sich Linken-Chefin Janine Wissler als Teil einer Delegation auf den Weg in die Türkei gemacht. Es geht um praktische Unterstützung, denn: Die Oppositionspartei sieht sich einem Verbotsverfahren ausgesetzt, zahlreiche Mitglieder stehen vor Gericht oder sind inhaftiert – zu ihnen gehört auch der ehemalige Co-Vorsitzende der Partei. Kurz vor ihrer Reise zeichnet Wissler gegenüber fr.de von IPPEN.MEDIA ein düsteres Bild von der Lage der Opposition vor Ort. Die Linken-Parteivorsitzende sagt: „Natürlich braucht es vor der Wahl sichtbare Zeichen der Solidarität“ – aus der Bundesregierung bleiben diese bisher aus.
Vor Türkei-Wahl: Wissler reist zur demokratischen Opposition – Zeichen der Solidarität
Der Anlass von Janine Wisslers Reise in die Türkei ist alles andere als freudig: Auf Einladung der HDP beobachtet die Oppositionspolitikerin aus Deutschland die Urteilsverkündungen gegen Oppositionelle in der Türkei. Vertreterinnen und Vertreter der HDP sind angeklagt, auch ein Verbot der gesamten Partei könnte die längst nicht mehr unabhängige Justiz noch vor den Wahlen beschließen.
Zu fr.de sagt Wissler: „Es ist wichtig, dort hinzugucken. Es sitzen auch heute noch viele Menschen im Gefängnis, wie etwa Selahattin Demirtas. Ihm droht lebenslange Haft. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat Ankara aufgefordert, ihn zu entlassen.“ An der Lage der Opposition vor Ort lässt Wissler keine Zweifel, wenn sie sagt: „Die Situation ist dramatisch“.

Die Chefin der Linkspartei will ein Zeichen setzen, für all denjenigen, die in der Türkei politisch verfolgt werden. Davon gibt es viele: Politikerinnen und Politiker, Kunstschaffende, Journalistinnen und Journalisten und zahlreiche andere. Seitens der Bundesregierung unter Kanzler Olaf Scholz (SPD) und Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) bleibt der Protest blass, zumindest, wenn es nicht um deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger geht. Das kritisiert auch Wissler. Sie sagt: „Die Außenministerin redet gerne von einer werteorientierten und feministischen Außenpolitik. Leider stellt man fest, dass die immer dann an ihre Grenzen stößt, wenn die eigenen wirtschaftlichen oder politischen Interessen in Mitleidenschaft gezogen werden.“ In der Türkei ist das der Fall.
Wissler beobachtet Zugeständnisse an Erdogan: „kulanter bei Menschenrechtsfragen, als bei anderen“
Dem Westen dient der türkische Autokrat als strategischer Partner, etwa in der Geflüchtetenfrage. Wissler sagt im Gespräch: „Man hat Erdogan zum Türsteher Europas gemacht in der Geflüchtetenfrage, auf Kosten der Geflüchteten. Jetzt lässt man sich in der Frage um den Nato-Beitritt von Schweden und Finnland am Nasenring durch die Manege ziehen. Das Interesse ist klar: Die Türkei ist ein Nato-Partner und ein strategisch wichtiges Land. Da ist man bei den Menschenrechtsfragen kulanter, als es offensichtlich bei anderen Staaten der Fall ist.“ Tatsächlich lässt sich im Umgang mit der Türkei ein sehr zurückhaltendes Verhältnis von Annalena Baerbock zu Kritik beobachten, im Vergleich zu anderen Staaten.
Zugeständnisse gibt es auch in anderen Ländern, Wissler verweist im Kontext der EU-Beitrittsdebatte etwa auf Abschiebungen von kurdischen Aktivisten in die Türkei. Mit Blick auf Deutschland sagt sie: „Die Kriminalisierung kurdischer Organisationen ist ein Zugeständnis an Erdogan“ und nennt darüber hinaus das Verbot von Symbolen der YPG – die gegen den IS als Partner des Westens gekämpft haben. Linken-Chefin Wissler weiter: „Auch aus Deutschland werden Kurden in die Türkei abgeschoben, das darf man nicht vergessen“. Bei genauem Hinsehen finden sich eine Reihe mutmaßlicher Zugeständnisse.
Die Opposition in der Türkei: Erdogan bei Türkei-Wahl unter Druck
Vielen von ihnen droht in der Türkei die Haft, auf faire Prozesse kann sich nicht verlassen werden. Längst hat Erdogan auch die Justiz in seinem Präsidialsystem ihrer Unabhängigkeit beraubt, die Gewaltenteilung faktisch aufgehoben. Das mögliche HDP-Verbot und die Prozesse gegen Vertreterinnen und Vertreter der Partei sprechen eine klare Sprache, wohin das Land unter Erdogan steuert – doch der Präsident steht unter Druck. Wissler möchte ihren Teil dazu beitragen, dass die Repression gegen Oppositionelle in der Türkei zumindest nicht unbemerkt an der deutschen Öffentlichkeit vorbeigeht.
Die Wirtschaftslage hat Erdogan in die Enge getrieben, auch ehemals treu ergebene Wählerinnen und Wähler wenden sich in Anbetracht der zunehmenden Armut von ihrem Regierungschef ab. Durch die Agitation gegen politische Widersacher, die er zu „Feinden der Nation“ erklärt, hat Erdogan in politischen Notlagen immer wieder nationalistisches Wählerklientel mobilisieren können. Ob ihm das dieses Mal gelingt, ist fraglich, klar hingegen ist: Er versucht es erneut. Janine Wissler hat recht, wenn sie sagt „Es ist wichtig dort hinzugucken.“ (ales)