Wem nützt der Anschlag von Istanbul politisch wirklich?
Die Schuldfrage nach dem Anschlag von Istanbul ist für Ankara klar: Es war die PKK, oder ein Ableger. An dieser Version gibt es berechtigte Zweifel.
Istanbul – Es war nicht der erste Anschlag auf der belebten Einkaufsstraße im Zentrum Istanbuls: Um 16:20 Uhr lokaler Zeit detonierte auf der Istiklal Caddesi am 13. November 2022 eine Bombe, die sechs Menschen in den Tod riss und 81 weitere verletzte. Bereits im Jahr 2016 hatte hier der Islamische Staat (IS) einen Anschlag verübt. Dieses Mal nun präsentiert die Führung in Ankara schnell eine Verdächtige: Sie soll der kurdischen Befreiungsbewegung um die PKK, beziehungsweise deren syrischer Schwesterpartei YPD, mit ihren Milizen von YPG und YPJ, nahestehen – die jedoch dementieren jegliche Beteiligung.
Tatsächlich gibt es berechtigte Zweifel, an einer Verantwortung kurdischer Kräfte. Wem nutzt der Anschlag politisch?
Anschlag in Istanbul: „Täterin“ präsentiert – Türkei macht PKK für Bombe auf der Istiklal verantwortlich
Nach dem Anschlag in Istanbul ging es schnell: „Täterin“ gefasst hieß es in türkischen Medien – zumindest eine Verdächtige. Es handle sich um eine syrische Kurdin, so das Staatsfernsehen. Die türkischen Behörden präsentierten innerhalb kürzester Zeit den perfekten Fahndungserfolg. Inklusive aller Details: Die beschuldigte Frau soll geständig sein, den Auftrag von der PKK in Kobane erhalten zu haben und dann über Afrin nach Istanbul gereist sein. Angeblich war es ihr Plan, sich nach dem Bombenattentat in Richtung Griechenland abzusetzen. So eindeutig wie die Umstände des Anschlags für die türkische Führung offenbar sind, so viele Fragen werfen sie auf.

Ungereimtheiten zum Anschlag in Istanbul: News über Dementi von PKK und PYD
Doch noch etwas anderes gab es schon sehr bald nach dem Anschlag in Istanbul: News über Dementi von PKK und PYD zu einer Beteiligung. In einer von der Nachrichtenagentur Firat veröffentlichten Verlautbarung erklärte die PKK unter anderem: „Wir sind eine Bewegung, die einen berechtigten und legitimen Freiheitskampf führt. Wir bewegen uns mit einer Perspektive, die mit der Gesellschaft in der Türkei eine gemeinsame demokratische, freie und gleiche Zukunft gestalten will.“ Weiter hieß es: „Deshalb kommt es für uns nicht infrage, auf irgendeine Art und Weise auf ZivilistInnen vor Ort in der Türkei zu zielen.“
Tatsächlich waren gezielte Anschläge auf zivile Ziele in den letzten Jahren kein Mittel der PKK. Ein plötzlicher Kurswechsel wäre, vor dem Hintergrund der Frage nach dem strategischen Nutzen in der aktuellen Situation, sehr überraschend. Auch die Kurdenmiliz YPG in Syrien bestritt Verbindungen zur Verdächtigten und verurteilte Anschläge auf Zivilisten öffentlich. Ein Attentat auf zivile Ziele verschärft für die kurdischen Kräfte in Nordsyrien die Gefahr einer schnellen Invasion der Türkei – mit möglicherweise gestiegenem internationalen Rückhalt. Ein unmittelbarer strategischer Nutzen eines Anschlags in Istanbul wird kaum nachvollziehbar.
Istanbul-Explosion: Die Vergangenheit zeigt, wie Erdogan vorgehen könnte
Es gibt weiterhin viele Unklarheiten nach der Istanbul-Explosion, nur in einem Punkt besteht Gewissheit: Präsident Recep Tayyip Erdogan wird das Ereignis innen- wie außenpolitisch instrumentalisieren. Vergangene Ereignisse, wie der gescheiterte Militärputsch, haben sein Vorgehensmuster gezeigt: Den Militärputsch nutzte er zum grundlegenden Staatsumbau, säuberte unter anderem die Justiz und das Militär von Gegnern. Unter dem Vorwurf der „Terrorpropaganda“ wird zudem seit Jahren gegen Oppositionelle verschiedenster Couleur vorgegangen – nicht zuletzt gegen Journalisten wie Deniz Yücel. Krisen, Putschversuche oder Anschläge haben Erdogan in der Vergangenheit immer wieder die Grundlage ausgrenzender und repressiver Maßnahmen geboten.
Das Timing des Bombenanschlags in Istanbul scheint nicht zufällig gewählt zu sein
Auch Prof. Burak Çopur, Politikwissenschaftler und Türkei-Forscher aus Essen, erklärte gegenüber der FR im Zuge der Anschläge: „Das Timing des Bombenanschlags in Istanbul scheint nicht zufällig gewählt zu sein. Nach dem Verlust der AKP-Alleinregierung erlebte die Türkei zwischen Juni und November 2015 eine Reihe blutiger und grausamer Terroranschläge mit hunderten von Toten. Diese Entwicklung löste Panik und Angst in der türkischen Bevölkerung aus, sodass sich viele Wähler wieder der AKP zuwandten und mit Erdogan Halt an einem starken Führer suchten.“ Auch diesmal könnte er Profit schlagen.
Türkei: Anschlag in Istanbul könnte von Erdogan als Druckmittel gegen den Westen genutzt werden
Wie die politische Führung in der Türkei den Anschlag in Istanbul auch außenpolitisch instrumentalisieren könnte, zeigte sich bereits wenige Stunden nach dem Anschlag. Der türkische Justizminister Bekir Bozdag erklärte in einer TV-Sendung: „Die USA geben den Terrororganisationen Waffen. Sie haben ihnen tausende Lkw-Ladungen Waffen geliefert. Die USA bilden sie aus. Frankreich und Deutschland unterstützen sie“. Ankara wirft den USA vor, „Terrororganisationen“ in Nordsyrien zu unterstützen, Hintergrund sind Kooperationen mit den syrischen Kurden rund um PYD, YPG und YPJ im Kampf gegen den Islamischen Staat..
Vor diesem Hintergrund wies Innenminister Süleyman Soylu nun Beileidsbekundungen der USA zum Anschlag in Istanbul zurück. Auch im Rahmen der Nato-Beitrittsverhandlungen mit Schweden hatte Erdogan immer wieder die Auslieferung Oppositioneller gefordert. Es scheint bereits jetzt, als würde Ankara den Anschlag auch nutzen wollen, um den Druck auf den Westen zu erhöhen.
Der Anschlag in Istanbul, die bevorstehenden Wahlen und die Repression gegen die HDP
Innenpolitisch ist es naheliegend, dass Recep Tayyip Erdogan den Anschlag in Istanbul kurz vor der Wahl ausschlachten könnte, um die oppositionelle Demokratische Partei der Völker (HDP) mit weiterer Repression zu überziehen. Bereits jetzt sitzen unzählige Vertreterinnen und Vertreter in türkischen Gefängnissen. Erdogan unterstellt der Partei, verlängerter Arm der PKK zu sein und begründet damit immer wieder Repression. Erst 2021 hatte der Generalstaatsanwalt des Obersten Gerichtshofs eine Anklageschrift eingereicht, um die HDP zu verbieten. Die bevorstehenden Wahlen fallen in Zeiten tiefer Krise in der Türkei, entsprechend sehen die Umfragewerte Stimmverluste für Erdogans AKP voraus. Ein Kampf gegen „Feinde der Nation“ käme Erdogan da genau recht.
Erst kürzlich hatten die Regierungsparteien ein neues Gesetz erlassen, das vermeintlich gegen Falschnachrichten vorgehen soll, tatsächlich jedoch wohl vor allem die Opposition treffen wird. Auch nach den Ereignissen von Istanbul hatte es Nachrichtensperren gegeben, die möglicherweise ein Vorbote für das sind, was noch kommt. Das Einschwören auf die „Einheit der Nation“ hat in der türkischen Geschichte Tradition und ist wohl eine der großen Kontinuitäten zwischen Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk und dem amtierenden türkischen Präsidenten Erdogan. Dabei funktioniert der Ruf nach nationaler Einheit über Inklusion und Exklusion: Auch dieses Mal dürfte es so sein.
Ganz egal, wer der Urheber des Anschlags tatsächlich ist: Erdogan wird versuchen Kapital aus dem Geschehenen zu schlagen. Dass er damit Erfolg hat, ist nicht unwahrscheinlich – das haben ähnliche Ereignisse der Vergangenheit gezeigt.