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Bürgergeld: Hartz IV gleicht Erpressung

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Von: Jens Kiffmeier

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Aus Hartz IV wird das Bürgergeld, doch sonst bleibt alles beim Alten? Nein, sagt Sarah-Lee Heinrich (Grüne Jugend) – und fordert höhere Regelsätze. Ein Interview.

Berlin – Die Mutter? Alleinerziehend. Und Hartz-IV-Empfängerin. Sarah-Lee Heinrich weiß, wie es sich anfühlt, wenn der Regelsatz vorne und hinten nicht reicht. „Ich musste immer in Unsicherheit leben. Ich wusste nicht, was nächsten Monat ist“, sagt die Sprecherin der Grünen Jugend, die nie einen Hehl aus ihrer Kindheit im ALG-II-Bezug gemacht hat. Im Gegenteil, heute schöpft sie aus diesem Abschnitt in ihrer Lebensgeschichte einen Teil ihrer politischen Glaubwürdigkeit. Denn innerhalb der neuen Ampel-Koalition ist die 21-Jährige eine entschiedene Vorkämpferin für die Erhöhung des Hartz-IV-Satzes.

Finanzielle Hilfe für Arbeitslose:Arbeitslosengeld II (genannt Hartz 4)
Eingeführt:1. Januar 2005
Gesetzliche Grundlage:Zweites Buch der Sozialgesetzgebung

Bürgergeld statt Hartz IV: Reform auf dem Plan von Arbeitsminister Hubertus Heil – bleibt Regelsatz unangetastet?

Seit Wochen tobt eine Debatte um die Arbeitsmarktreform. Erklärtes Ziel von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) ist die Abschaffung von Hartz IV und die Einführung eines neuen Bürgergeldes. Doch während sich die Hinzuverdienstgrenzen ändern sollen, wird an der Höhe der Regelsätze nicht gerüttelt – zum Verdruss vieler Gewerkschaften und Sozialverbände, aber auch der Grünen Jugend. Für die Nachwuchsorganisation der Regierungspartei ist die Diskussion längst noch nicht abgeschlossen. Ob sich der Minister noch überzeugen lässt, wie hoch die Regelsätze eigentlich sein müssten und über die heimliche Macht der Arbeitgeber, spricht Sarah-Lee Heinrich im Exklusiv-Interview mit kreiszeitung.de. Zeit für ein Gespräch:

Bürgergeld: Die Ampel will Hartz IV abschaffen – Sarah Lee-Heinrich und die Grüne Jugend sehen Reform noch kritisch

Die Ampel-Partner wollen Hartz IV abschaffen und eine Bürgergeld-Reform einführen*. Aber viele Empfänger sind frustriert, weil die Regelsätze unverändert bleiben. Warum hat die Koalition den Mund so voll genommen? 

Für die Grüne Jugend ist es ein großes Anliegen, Hartz IV zu überwinden. Denn es wurden viele Fehler in der Agenda 2010 gemacht. Die Ampel hat deswegen die Verantwortung, alles dafür zu tun, um den Niedriglohnsektor zu schließen und den Sozialstaat zu stärken. Was Hartz IV angeht, gibt es angekündigte Reformschritte, die auch nicht irrelevant sind. Aber eine Abschaffung ist es nicht, das stimmt.  

Grüne-Jugend-Sprecherin Sarah-Lee Heinrich fordert beim Bürgergeld eine Erhöhung des Regelsatzes. Im Hintergrund ist das Logo der Arbeitsagentur zu sehen.
Fordert eine Erhöhung vom Hartz-IV-Satz: Sarah-Lee Heinrich von der Grünen-Jugend. (kreiszeitung.de-Montage) © Kay Nietfeld/Hendrik Schmidt/dpa

Was muss aus Ihrer Sicht bei noch geschehen?

Hartz IV ist erst abgeschafft, wenn es existenzsichernd ist und es keine Sanktionen mehr gibt. Das ist derzeit nicht der Fall.

Also ist das Bürgergeld nur ein neuer Name für Hartz IV?

 Es gibt Reformen, aber man muss aufpassen, dass man sich von der Namensänderung nicht blenden lässt.  

Hartz IV: Erhöhung des Regelsatzes soll 2022 kommen – Grüne Jugend sieht Minister Hubertus Heil in der Pflicht

Warum hat Ihre Partei in den Verhandlungen nicht mehr bei Minister Hubertus Heil herausgeholt? 

 Die Grünen konnten sich am Ende nicht gegen SPD und FDP durchsetzen*. In den Verhandlungen hätte man sich direkt darauf einigen können, die Regelsätze anzuheben. Man hat es nicht getan.

Warum nicht?

Weil es nicht im Interesse der Mehrheit dieser Koalition ist. Wenn nicht nur die Grünen, sondern auch die SPD dafür gewesen wären, dann hätten wir jetzt eine Regelsatz-Erhöhung. Es war eine Entscheidung zwei gegen eins.

Also sprechen wir es aus: Ist der Drops jetzt gelutscht?

Ich würde sagen: nein. Für 2023 steht eine größere Neuberechnung an. Wir müssen jetzt den öffentlichen Druck hochhalten. Finanzieren lassen sich die höheren Regelsätze ja. Es fehlt momentan nur der politische Wille.

Höhe des Hartz-IV-Satzes: Laut den Grünen sollten die Jobcenter beim Bürgergeld 2022 mindestens 700 Euro auszahlen

Woher soll das Geld für den Hartz-IV-Satz kommen? Die Bürgergeld-Reform ist ja nicht das einzige sozialpolitische Versprechen.

Leider hat man sich bewusst dagegen entschieden, wohlhabende Menschen stärker zur Finanzierung des Gemeinwohls heranzuziehen. Ich finde das grundfalsch. Weil man sich umgekehrt dazu entschieden hat, an den ärmsten Menschen zu sparen. Es ist nicht zu rechtfertigen, dass die Ampel Millionen Menschen wissend unter dem Existenzminimum leben lässt. Die Ampel hat die Verantwortung, Wege der Finanzierung zu finden.

Bei der Finanzierung ist Ihre Mutterpartei aber trotzdem auch zurückhaltend aufgetreten. Im Wahlprogramm war nur eine Erhöhung der Regelsätze um 50 Euro vorgesehen. Reicht das?

Man muss da unterscheiden. Die Forderung war, dass die Regelsätze um 50 Euro sofort steigen sollen und dass der Regelsatz danach Schritt für Schritt angehoben wird. Das reale Existenzminimum liegt bei rund 600 bis 700 Euro. Dass sich die Sätze in diese Richtung bewegen müssen, ist allen in der Partei klar.  

Sprecherin Sarah-Lee Heinrich (Grüne Jugend) steht lässig an einem Treppengeländer.
Mahnerin bei der Abschaffung von Hartz IV: Sarah-Lee Heinrich, Sprecherin der Grünen Jugend. © Kay Nietfeld/dpa

Hartz-IV-Empfänger haben in der Regel wenig Lobby in der Politik. Ist es für eine Regierung deswegen auch zu einfach, über die Interessen hinwegzusehen? 

Wir erwarten von der SPD, aber auch von den Grünen, dass sie sich stärker an die Seite der Arbeiterinnen und Arbeiter stellen. Dazu zählen auch die Arbeitslosen, die oft unfreiwillig keinen Job haben, alleinerziehend sind oder ständig zwischen Hartz IV und befristeter Stelle hin- und herspringen müssen. Erinnern Sie sich noch an die INSM-Kampagne gegen Annalena Baerbock?

Annalena und die 10 Verbote?

Ja, genau. In ihrer Begründung der Kampagne hat diese Arbeitgeber-Interessensvertretung* keinen Hehl daraus gemacht, dass sie unter anderem ein sehr großes Problem mit einer Abschaffung von Hartz IV haben. Aber warum ist das so?

Es gibt im Land ein großes Interesse, dass die Leute schlecht bezahlte Jobs annehmen.

Sarah-Lee Heinrich, Sprecherin der Grünen Jugend, zur Bürgergeld-Reform

Sagen Sie es uns.

Weil die Menschen dann nicht mehr erpressbar sind, schlechte Jobs anzunehmen. Niedriglohnsektor und Hartz IV gehen Hand in Hand. Und in dem Moment, wo wir eine gute Grundsicherung haben, überlegen sich Menschen zweimal, ob sie einen schlecht bezahlten Job annehmen. Aber es gibt in unserem Land ein großes Interesse, dass die Menschen trotzdem schlecht bezahlte Jobs annehmen.  

Ihre Kritiker würden sagen, dass der Wohlfühlfaktor in der sozialen Hängematte aber nicht zu groß sein darf, weil dann der Ansporn zur Jobsuche weg ist.

Zur Wahrheit gehört dazu, dass viele Menschen unfreiwillig arbeitslos sind und der Armutsfalle entfliehen wollen. Aber wir haben jetzt die Situation, dass viele aus Hartz IV rauskommen, weil sie einen schlecht bezahlten und befristeten Job annehmen - und dann wieder in Hartz IV landen. Doch wir können die Arbeitslosen nicht dafür bestrafen, dass jeder fünfte Job ein Niedriglohnjob ist. Ich möchte, dass alle eine gut bezahlte Arbeit haben.   

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 Sprich, Sie kämpfen weiter?

Man muss für die Umsetzung kämpfen, ja. Der Kampf ums Bürgergeld ist aus meiner Sicht ein offener. Es ist unsere Aufgabe, den Druck hochzuhalten. Und ich glaube schon, dass das möglich ist.

Sarah-Lee Heinrich ist seit Oktober 2021 die Sprecherin der Grünen Jugend. Die 21-jährige Studentin, die in Köln an der Universität mittlerweile Sozialwissenschaften studiert, führt die Nachwuchsorganisation zusammen mit Timon Dzienus. Die beiden sehen es als ihre Aufgabe an, der Mutterpartei, aber auch der SPD und der FDP ins Gewissen zu reden – trotz Regierungsmacht. Während Heinrich sich neben der Umwelt- und Klimapolitik unter anderem auch die soziale Gerechtigkeit auf die Fahnen geschrieben hat, attackierte Dzienus erst kürzlich Minister Volker Wissing (FDP) für eine vermeintlich verfehlte Verkehrspolitik. * kreiszeitung.de und merkur.de sind ein Angebot von IPPEN.MEDIA.

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