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Fahrt ins Ungewisse endet glücklich in Kirchlinteln

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Von: Reike Raczkowski

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Sind froh, hier zu sein. Und in großer Sorge um ihre Heimat: Serhii, Christina, Oksana, Daryna und Zacharij Sydorchuk erinnern sich an die Flucht aus der Ukraine vor genau einem Jahr.
Sind froh, hier zu sein. Und in großer Sorge um ihre Heimat: Serhii, Christina, Oksana, Daryna und Zacharij Sydorchuk erinnern sich an die Flucht aus der Ukraine vor genau einem Jahr. © Raczkowski

Vor genau einem Jahr kommt die ukrainische Familie Sydorchuk in Kirchlinteln an. Jetzt berichtet sie von ihrer damaligen Fahrt ins Ungewisse. 

Kirchlinteln – Die Frau betrachtet das Foto in ihrer Hand. Es zeigt eine blasse Frau in dicker Winterkleidung, an ihrer Seite sind drei ebenso dick eingepackte Kinder. Alle sehen müde aus, etwas ängstlich. Sie stehen auf einem Parkplatz. Im Hintergrund ist ein Bus zu sehen, aus dem sie anscheinend gerade ausgestiegen sind. Der Himmel ist blau. Das Foto ist genau ein Jahr alt, und seitdem ist viel passiert im Leben von Oksana Sydorchuk, ihrem Mann Serhii und ihren drei Kindern. „Es war richtig, in diesen Bus zu steigen“, sagt Oksana.

Auch für die Ehrenamtlichen war es eine emotionale Reise

Ein Jahr ist es her, dass eine Gruppe von Kirchlintlern mit einem Konvoi in Richtung Ukraine aufbrach. „Der Krieg dort war erst wenige Tage alt und wir hatten nur eine geringe Vorstellung, was uns dort erwartet“, erinnert sich Busfahrer Uwe Roggatz. „Für uns war es eine der eindrücklichsten Reisen überhaupt und zutiefst emotional.“ Zwei Reisebusse und fünf Kleinbusse, teilweise mit Anhänger, voller wertvoller Hilfsgüter aus der Gemeinde Kirchlinteln, machten sich auf den Weg.

In Tlumatsch vom Krieg überrascht

Die Wochen vor diesem Tag waren für Oksana, Serhii, ihre Töchter Christina und Daryna und den Sohn Zacharij der blanke Horror gewesen. Hatte das Ehepaar bis dahin ein ruhiges Leben in der westukrainischen Stadt Tlumatsch geführt – sie Musiklehrerin, er Handwerker – war auf einmal alles anders. „Wir wurden überrascht von dem Krieg. Wir konnten einfach nicht glauben, dass es wirklich passiert“, sagt Oksana nachdenklich. „Ich dachte die ganze Zeit: Werden die Geschichten von meiner Oma jetzt wahr? Sie hat uns immer erzählt, dass Krieg das Schlimmste ist, was einem passieren kann.“ Und dann mussten die Sydorchuks auf einmal ihren Keller zu einem Bombenschutzraum herrichten und durften bei Dunkelheit das Licht nicht mehr anschalten. „Ich konnte es nicht fassen“, sagt Oksana.

Kirchlintler bewiesen eine riesige Solidarität

In Deutschland schockierte die Nachricht von Russlands Invasion in der Ukraine die Menschen. Auf einmal schien der Frieden in Europa brüchig. Die Menschen in der Gemeinde Kirchlinteln zeigten riesige Solidarität und spendeten große Mengen Geld und Hilfsgüter, um einen Transport in die Westukraine zu ermöglichen. Von dort sollten außerdem Waisenkinder abgeholt und in Sicherheit gebracht werden. Ein ungewöhnlicher Hilfseinsatz, durchgeführt von ehrenamtlichen Kirchlintlern, viele von ihnen bereits im Rentenalter.

Derweil in Tlumatsch: Immer wieder geht die Warn-App auf dem Handy der Familie Sydorchuk, Kampfflugzeuge donnern über den Himmel. „Wir mussten immer wieder in den Keller“, sagt Oksana. Die 13-jährige Christina erinnert sich. „Wir haben gezittert vor Angst und Kälte.“ Die elfjährige Daryna habe bei jedem Alarm darauf bestanden, ihre drei Katzen im Haus einzusammeln und sie mit in den Keller zu bringen. Dort hätten sie dann alle beieinander gesessen und gebetet. „Ich habe zuerst gedacht: In ein paar Tagen ist dieser Spuk vorbei“, erinnert sich Oksana. Serhii habe dagegen geahnt, dass das nicht so schnell gehen würde. „Als wir die ersten Bilder von zerbombten Häusern in Kiew im Internet gesehen haben, wurde mir ganz anders. Ich fragte mich, was ich jetzt tun sollte, um meine Kinder zu schützen“, so die Mutter.

Stadtverwaltung infomierte über die Bus aus Deutschland

Als die Sydorchuks einen Anruf von der Stadtverwaltung bekamen, dass in wenigen Tagen ein Hilfstransport aus Niedersachsen an der polnisch-ukrainischen Grenze erwartet würde, der auf dem Rückweg Frauen und Kinder mit nach Deutschland nehmen würde, sei die Entscheidung ganz leicht gefallen. Serhii: „Den Kindern haben wir gesagt, es sei nur ein Ausflug, in drei Wochen gehe es wieder zurück.“ Er selbst habe in der Ukraine bleiben und für sein Land kämpfen wollen, erzählt der 42-Jährige.

Als die Kirchlintler ins Grenzgebiet kamen, wurden sie von den Eindrücken überwältigt. „Menschen, die spürbar nicht wussten, wohin. Menschen, die bereits tief gezeichnet waren“, erinnert sich Uwe Roggatz. Im provisorischen Hilfscamp der Johanniter auf ukrainischer Seite seien die Fahrer auf sehr engagierte junge Leute getroffen, „die sehr bemüht waren, den Flüchtlingen nicht nur mit einer warmen Suppe, sondern auch mit einem noch wärmeren Lächeln zu helfen.“ Deren Freude sei riesig gewesen, als die Kirchlintler die Ladung eines Reisebusses in ihre Hände gaben, weil die übernehmenden drei kleineren Schulbusse aus Tlumatsch diese Hilfsgüter nicht mehr fassen konnten.

Mit großer Hoffnung im Herzen eingestiegen

Die Nacht hatten Oksana, ihre Kinder und weitere Flüchtlinge aus Tlumatsch in einem Tankstellengebäude im Grenzgebiet verbracht. Sie habe sich gefragt, ob diese Menschen aus Kirchlinteln tatsächlich zum vereinbarten Treffpunkt kommen würden, sagt Oksana. Sie habe nicht gewusst, was sie erwarten würde. „Ich war vorher noch nie in Deutschland, ich hatte vorher noch nie die Ukraine verlassen.“ Aber als der Bus auf den Parkplatz gefahren sei, sei sie mit ihren Kindern ohne zu zögern eingestiegen, „mit großer Hoffnung im Herzen“.

„Es waren die Frauen und Kinder aus Tlumatsch, die uns gegenüber standen, die uns so sehr beeindruckten. Sie hatten sich auf eine Fahrt ins Ungewisse eingelassen. Sie wussten nicht, wer wir sind und auch nicht richtig, wohin es gehen sollte“, erinnert sich Uwe Roggatz ein Jahr später an diesen kalten Märztag. „Es war eine sehr eigentümliche Stimmung. Einerseits spürten wir, dass die Frauen und Kinder froh waren, das Kriegsgebiet hinter sich gelassen zu haben. Und es war die Sorge zu spüren, dass man in keiner Weise wusste, worauf man sich einließ.“

Als sie die Grenze überquerten, sei ihr ein riesengroßer Stein vom Herzen gefallen, erinnert sich Oksana. „Es gab polnische Begleitpersonen im Bus, mit denen wir kommunizieren konnten. Das hat alles besser gemacht, das hat uns beruhigt.“

Empfang am „Basiscamp“ Zimnmerei Bischoff

Nach 15 Stunden Fahrt gelangte der Konvoi zum „Basiscamp“, der Zimmerei Bischoff in Kirchlinteln. „Dort erwarteten uns viele Menschen, die sich kurzerhand gefunden hatten, die Ukrainerinnen und ihre Kinder aufzunehmen, und es empfing uns unser Bürgermeister. Es war der hochemotionale Schlusspunkt der Reise.“ Kirchlintelns Ortsvorsteher Hermann Meyer war ebenfalls vor Ort. Er schoss Fotos von der Ankunft der Ukrainer. Auch jenes, das Oksana und ihre Kinder zeigt.

Heute sieht Oksana anders aus, viel gesünder und entspannter. Sie lächelt viel und erzählt gerne. Aber ihre Augen bleiben traurig. „Ich trage Sorge in mir“, sagt sie. Um ihre Eltern, die noch in Tlumatsch sind, um ihre Freunde und Bekannten, um ihr Land. „Ich bete jeden Tag, dass der Krieg endet.“ Dass Serhii nicht wie geplant an der Front kämpft, sondern ihr bereits im Mai nach Deutschland folgte, sei ein großes Glück. „Als Vater von drei minderjährigen Kindern darf er nicht kämpfen.“

Seit ihrer Ankunft in der Gemeinde Kirchlinteln wohnten die Sydorchuks mit mehreren anderen ukrainischen Familien in einem Haus in Schafwinkel. Zeitweise lebten dort zehn Kinder, es war wenig Platz. Die fünf Sydorchuks teilten sich ein einziges Zimmer. „Aber wir sind den Hausbesitzern unendlich dankbar, dass sie uns aufgenommen haben“, sagt Oksana. Seit einer Woche wohnt die Familie nun in Armsen, in einer eigenen Wohnung. Alle Kinder haben eigene Zimmer. „Wir fühlen uns wie Könige“, sagt Oksana lachend und hat doch Tränen in den Augen.

Kinder haben inzwischen gut Fuß gefasst

Serhii hat bereits im Herbst Arbeit gefunden, Oksana hat schon mehrfach Konzerte mit ukrainischer Musik in ihrer neuen Heimat gegeben. Sie spielt die Bandura, die ukrainische Lautenzither. Die Kinder gehen gern zur Schule. „Ich möchte gar nicht zurück in die Ukraine“, sagt die 13-jährige Christina, die gute Noten schreibt. Zacharij ist glücklich, so lange er nur Fußball spielen kann. Für die roten Teufel des TSV Brunsbrock schießt der Siebenjährige leidenschaftlich Tore. Nur Daryna hat großes Heimweh. „Ich vermisse meine Katzen so“, sagt die Elfjährige. Regelmäßig rufe sie die Oma an und rede am Telefon mit ihren flauschigen Freunden.

„Wir sind dankbar, dass unsere Kinder hier in Frieden aufwachsen und zur Schule gehen dürfen“, sagt Serhii. Und Oksana mag sich gar nicht ausmalen, wie ihr Leben heute aussehen würde, wenn sich vor einem Jahr nicht einige mutige Kirchlintler auf den Weg Richtung Ukraine gemacht hätten.

Als Übersetzer bei dem Gespräch fungierten dankenswerterweise Marina Kisser, Flüchtlingskoordinatorin der Gemeinde Kirchlinteln, und ihr Sohn Kevin.

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