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„Wer hat Angst vorm bösen Wolf?“ - Zwischen Mythos und Realität

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Von: Lisa-Marie Rumann

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Der Wolf blickt neugierig auf die Besucher in seinem Gehege. © Phillip Petzold

Essensreste auf dem Kompost oder Weidetierhaltung im Moor: Auf dem Land gibt es einige Möglichkeiten, dem Wolf zu begegnen. Um mich meiner Angst zu stellen, habe ich mir das Tier mal vom Nahen angeschaut - im Wolfcenter Dörverden.

Dörverden - Sarah Dierks öffnet die dunkelbraune Holztür. Was uns dahinter erwartet, ist nichts für schwache Nerven. Der Geruch von Fleisch und Blut strömt heraus. Für meine Sinne etwas gewöhnungsbedürftig, für Sarah ihr täglich Brot. Ein hüfthoher Schneidblock aus Holz, verschiedene Messer und eine Kühltruhe füllen den Raum. An der Wand kleben Namensschilder, darunter stehen schwarze Eimer. Was manch einen an eine Folterkammer aus einem Horrorfilm erinnert, ist lediglich der Raum, in dem die Mitarbeiter das Fressen für die Wölfe zubereiten. 

Sarah zieht sich Handschuhe an, hievt eine Rinderleber auf den Holzblock und zerteilt das Fleisch mit einem Messer in maulgerechte Stücke. Blut verteilt sich auf der Oberfläche. Während ich kurz vor einem Ohnmachtsanfall stehe, schnibbelt Sarah fröhlich weiter. Anschließend landet das Fleisch in einem der Eimer. „Die Vierer“ ist auf dem Aufkleber darüber zu lesen. Damit sind Sirius, Remo, Juri und Odin gemeint. Vier Wolfsgeschwister, die schon auf ihr Fressen warten. Leber und andere Innereien stehen auf dem Speiseplan. Aber nicht montags und dienstags. Ruhetage im Park bedeuten auch Ruhe für Wolfsmägen. „Das ist aber okay“, sagt Sarah, denn sie können bis zu 14 Tage ohne Nahrung auskommen. 

Zwölf Wölfe leben im Wolfcenter Dörverden

Alternativ zum Rind wird auch Wild verfüttert. Zum Beispiel Rehe, die im Straßenverkehr verunglücken. „Das wird uns von den Jägern sozusagen gespendet“, sagt Sarah. „Auf Schweinefleisch verzichten wir hingegen.“ Die Gefahr sei zu groß, dass die Wölfe sich dadurch mit der Aujeszky-Krankheit infizieren. Auch genannt: Pseudowut. Denn die verläuft meistens tödlich. 

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Fleisch steht auf dem täglichen Speiseplan des Wolfes. © Phillip Petzold

Zwölf Wölfe werden im Wolfcenter Dörverden durchgefüttert. Die ausgewachsenen Tiere bekommen bis zu zwei Kilo Fleisch am Tag, die Heranwachsenden etwas mehr. „Da dürfen es ruhig schon mal vier sein“, erklärt Sarah. Auf die Frage, ob sie anfangs Probleme mit dieser Aufgabe hatte, antwortet sie lediglich: „Ich bin da eher etwas vorbelastet.“ 14 Jahre lang hat sie als Tierarzthelferin gearbeitet. „Das ist für mich völlig normal.“

Diagnose vom Zaun ist nicht immer aussagekräftig

Sarah schnappt sich den Eimer mit den Fleischbrocken und hängt ihn an eine Federwaage. Acht Kilogramm zeigt sie an. „Das passt genau.“ Wir machen uns auf den Weg zu Milan und Finja. Eine dreiköpfige Besuchergruppe darf das Geschwisterpärchen von Nahem betrachten. Der Weg führt uns vorbei am Gehege von Mitja und Levi. Die zwei laufen am Zaun entlang. Sie wirken neugierig. Entweder riechen sie meine Angst oder das frisch geschnittene Fleisch. Sicherlich ist die Chance fifty-fifty.

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„Oh, hinten links“, sagt Sarah. Einer der zwei Wölfe humpelt. Er setzt sein linkes Hinterbein nicht ab. „Das muss sich unsere Tierärztin mal anschauen.“ Häufig reicht eine Ferndiagnose vom Zaun aus. Aber falls nicht, müssen die Pfleger das Tier aus dem Gehege holen. „Das versuchen wir aber so oft es geht zu vermeiden.“ Denn dafür muss der Wolf vorübergehend außer Gefecht gesetzt werden. Das passiert mittels eines Narkose-Schusses. „Wir haben das Narkosemittel nicht vorrätig. Unsere Tierärztin bringt es bei Bedarf mit und dosiert es“, erklärt Sarah. Den Schuss würde aber Inhaber Frank Faß absetzen. Er hat einen speziellen Schein dafür. 

Wolfsgeheule weckt Übernachtungsgäste

Vor dem Gehege von Milan und Finja steht die Besuchergruppe bereits parat. Nach kurzer bürokratischer Besprechung geht es auch schon los. Sarah führt die dreiköpfige Gruppe durch die Schleuse ins Gehege. „Ich hab gerade gesehen, dass Milan sich entleert hat, also passen Sie besser auf, wo Sie hintreten“, sagt sie und lacht. Denn Wolfskot möchte niemand unterm Schuh haben. Einer von ihnen fragt: „Riecht es schlimmer als vom Hund?“ Die Besucher schmunzeln. 

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Besucherführer Florian Streit erklärt den Interessierten Wissenswertes über den Wolf. © Phillip Petzold

Eine Frau bleibt vor dem Gehege stehen. „Ich schaue mir das Ganze von außen an“, sagt sie. Unter normalen Umständen hätte ich mich auch so entschieden. Aber heute möchte ich mich meiner Angst vor Wölfen stellen. Aber dazu kommen wir später. Sie und ihr Mann sind schon einen Tag zuvor aus Wolfsburg angereist. „Wir haben in einem der Gästehäuser übernachtet.“ Am schönsten findet sie, dass die Wölfe pünktlich um 6.45 Uhr angefangen haben, zu heulen. „Da braucht man gar keinen Wecker“, sagt sie und lacht. 

Wölfe haben ihren eigenen Kopf

Aus sicherer Entfernung beäugen sich Wölfe und Besucher im Gehege gegenseitig. Neugieriger Blick, die Ohren spitz aufgestellt. Dennoch braucht es einen Moment, bis die zwei Spezies sich vertraut sind. Milan und Finja kommen näher. „Aber nicht dichter als zwei Meter“, erklärt Sarah. Das ist der Sicherheitsabstand. Da sich dieser aber zu relativieren schien, positioniert Sarah sich zwischen Wolf und Besucher. Das Tier beginnt zu bellen und klopft mit den Vorderpfoten auf den Boden. Für Angsthasen wie mich wäre das schon Grund genug für einen leichten Panik-Anflug. Doch die Gruppe bleibt locker. 

Was ist los? „Ob sie nun angriffslustig oder zu neugierig war, kann ich nicht sagen“, sagt Sarah. „Um das ganz genau herauszufinden, müsste man Verhaltensforscher sein.“ Zum Glück ist nichts weiter passiert, aber die Besucher haben das Gehege dann verlassen. „Die Tiere haben eben ihren eigenen Kopf.“ Und die Stimmung ist tagesformabhängig. 

Schon gelesen? Wolfcenter-Inhaber Frank Faß veröffentlicht Buch über Wölfe und Herdenschutz.

Eindeutiges Wolfsindiz: Bernsteinfarbene Augen

Weiter geht es mit dem offiziellen Parkrundgang. Eine Traube von ungefähr 20 Interessierten hat sich vorm Eingang versammelt. Florian Streit übernimmt diese Führung. Er ist ein stämmiger Typ mit braunen Haaren und braunem Bart. Ein Berufsjäger. Selbstsicher schiebt er einen Eimer voll Frischfleisch auf einer Sackkarre vor sich her. Die Gruppe folgt ihm. 

Mit kräftiger Stimme präsentiert er verschiedene Fakten über den Wolf. Auf die Frage, wie man einen Wolf identifizieren könnte, hat er eindeutige Antworten auf Lager: bernsteinfarbene Augen, spitze, dreieckige Ohren und einen flach gelegenen Körper. „Wie ein Ferrari.“ Seinen Text kann er aus dem Effeff, und auch auflockernde Witze à la: „Wenn Ihnen jemand erzählt, er hätte einen Wolf mit blauen Augen gesehen, dann war das ein Husky“ oder „Trotz des flach gelegenen Körpers ist ein Dackel nicht der schnellste Hund“.

Wolfswelpe oder 500 Gramm Hack?

Weiter geht es in der Wissenswelt: Wenn Wölfe geboren werden, sind sie erst einmal taub und blind. Wie schwer sie denn wären, wollte ein Besucher wissen. „Nun ja, was schätzen Sie denn?“, fragt er in die Runde. Die meisten tippen ungefähr richtig. Florian formt seine Hand symbolisch so, als würde er etwas in der Hand halten. „Am besten Sie gehen in einen Supermarkt und fragen an der Fleischtheke nach 500 Gramm Gehacktem, dann haben Sie Ihre Antwort.“ Später wiegt ein ausgewachsenes Tier um die 40 Kilo.

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Hungrig warten die Tiere am Zaun auf ihr Fressen. © Phillip Petzold

Um da hin zu kommen, bekommen die Tiere ihre tägliche Dosis Fleisch. Florian und Sarah gehen zwischen zwei Gehegen auf der hölzernen Besuchertreppe bis nach oben. Von dort schmeißen sie ein Stück Fleisch nach dem nächsten über den Zaun. Die Wölfe springen in die Lüfte, schnappen sich das Fleisch und verschlingen es im Nu. Sie agieren ganz ohne Rücksicht auf Verluste: Egal, ob ein anderes Tier im weg ist oder ein Baum - Hauptsache Fleisch. 

Wölfe in freier Natur werden fünf bis sieben Jahre alt

Hier sehe ich meine Angst vor dem Raubtier durchaus begründet. Das Fletschen der spitzen Zähne und das egoistische Verhalten wirken auf mich ziemlich brutal, fast schon bestialisch. Wenn ich mich entscheiden müsste zwischen einer Begegnung mit einem hungrigen Wolf oder einer Prüfung aus dem Dschungelcamp, würde ich zweiteres wählen. Doch glücklicherweise trennt uns ein hoher Zaun, sodass aktuell zumindest keine Entscheidung für mich ansteht. 

Überleben können Wölfe in freier Wildbahn ungefähr fünf bis sieben Jahre. In Wildtierparks ist die Lebenserwartung etwa doppelt so hoch. Die älteste Wölfin des Wolfcenters ist 15 Jahre alt geworden. Gründe für die recht geringe Lebenserwartung in der Natur sind Unfälle im Bahn- und Straßenverkehr sowie Jäger, die illegal Tiere abschießen. 

Mythos: Wölfe heulen den Mond an

Im Park ist es gerade recht still. Hier und da ist ein Knacken zu hören, ab und an mal ein tiefes Schnaufen. „Wir sollten mal gemeinsam heulen“, schlägt Florian vor. Ein bisschen Stimmung machen. Die Blicke der Besucher wandern Richtung Boden. Keiner traut sich so richtig, mitzumachen. „Keine Panik. Wenn einer schief klingt, dann bin ich das.“ Also: Florian macht es vor, die Gruppe tut‘s ihm gleich. Ein lautes, langgezogenes „Aaauuuu“ schallt durch den Park. Und tatsächlich - die Wölfe antworten. Aus allen Ecken schallt Geheule zurück. Für die Übersetzung gibt es viele sagenumwobene Theorien: Essen und Eindringlinge sind die bekanntesten. Aber auch wenn Jagdhörner und Sirenen ertönen heulen sie. „Dass Wölfe den Mond anheulen, ist allerdings ein Mythos.“

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Nachts unterwegs: Horror-Szenarien in meinem Kopf

Ein Mythos, der sich aber hartnäckig hält und entsprechende Szenen aus dem einen oder anderen Horrorfilm deshalb nicht wegzudenken sind. Stell dir vor: Du bist nachts mit dem Fahrrad unterwegs, es ist Vollmond und von irgendwoher ist Wolfsgeheul zu hören. Schaurig. Wie aus dem Nichts erscheint das Tier plötzlich vor dir. Was nun? Ein Angst-Szenario, dass seit meiner Kindheit in meinem Kopf fest verankert ist. 

Auf dem Dorf ist man gar nicht so selten nachts mit dem Fahrrad unterwegs. Und auch gar nicht so gering ist die Wahrscheinlichkeit, dass dort ein Wolf deinen Weg kreuzt. Ursächlich dafür sind unter anderem Komposte. „Viele entsorgen Fleisch- und Essensreste auf dem Kompost“, erklärt Sarah. „Und genau dadurch werden die Tiere angelockt.“ Auch wenn sie ansonsten eher scheu sind und den Kontakt zu Menschen meiden. 

Nur Opfer laufen vor dem Wolf weg

Bei einer möglichen Begegnung heißt es zuallererst Ruhe bewahren. Schauen, wie sich das Tier verhält, aber keinesfalls wegrennen. „Das machen nur Opfer“, meint Florian. „Und das bist du auf keinen Fall.“ Sollte das Tier sich nicht von allein zurückziehen oder sogar auf dich zukommen, mach dich groß und gib laute Geräusche von dir. „Falls das noch immer nichts bezwecken sollte, gibt es irgendwo immer ein paar Steine, die am Wegesrand liegen“, sagt Florian und lacht. 

Das sagt sich alles immer so einfach. Aber in der Praxis? Um mich direkt meiner Angst zu stellen, begebe ich mich mit Sarah in das Gehege von Cosmo und Luna. Das Geschwisterpärchen ist erst ein paar Monate alt. Groß sind sie aber schon wie ausgewachsene Tiere. Die zwei gehören einer kanadischen Unterart an und wurden im Wolfcenter mit der Hand aufgezogen, weil die Mutter selbst dazu nicht im Stande war. Ihr Fell ist weiß und auf den ersten Blick flauschig. Mir ist klar, dass die zwei sich anders verhalten, als frei lebende Wölfe. Aber für einen ersten Schritt reicht es mir. 

Video: Alltag unter Wölfen im Wolfcenter Dörverden

Cosmo und Luna - Welpen so groß wie Erwachsene

Vor dem Gehege steht ein dunkelgrüner Spind. Tarnfleck-Jacken hängen dort drin. Sind die zum Verstecken gedacht? „Die bekommen unsere Gäste zum Schutz für ihre Kleidung“, erklärt Sarah. Oh je, und an meiner Jacke war bereits ein Fetzen Stoff abgerissen. Oder abgekaut? Ist das in einem Kampf zwischen Mensch und Wolf kaputt gegangen? Horror-Szenarien in meinem Kopf. Naja, Jacke an und rein ins Gefecht. 

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Die Welpen Cosmo und Luna freuen sich über Sarahs Besuch. © Phillip Petzold

Cosmo und Luna liegen am Zaun. So sehen sie echt süß aus. Als sie Sarah bemerken, wachen sie langsam auf - und freuen sich. „Die zwei sind regelrecht aufdringlich“, warnt sie mich vor. Und ja, das war nicht untertrieben. Sie springen an ihr hoch, wollen auf den Arm, schlecken ihr übers Gesicht. Raubtiere? Scheint nicht so, viel mehr wie treue Hunde. „Trotzdem ticken sie anders.“ Sie haben ihren eigenen Willen. Und darin sollte man sie nicht einschränken. 

Team zieht Geschwisterpaar per Hand auf

Zu Sarah haben Cosmo und Luna eine ganz besondere Verbindung. Sie gehört zum Team, das die beiden aufgezogen hat. In dem Gehege steht eine kleine, rote Holzhütte. „Hier haben wir die Welpen 24/7 betreut.“ Soll heißen: Die Tierpfleger haben rund acht Wochen mit den Welpen dort gelebt und übernachtet. Zwei Feldbetten sind noch aufgebaut, auch Hundedecken sind noch da. 

Beim Erzählen kommt Sarah aus dem Grinsen gar nicht mehr raus. Auch ihre Augen werden ein bisschen glasig. Sie scheint sehr glücklich darüber zu sein. Und vor allem darüber, dass die zwei sie auch bis heute nicht vergessen haben. Zwar hören sie nicht auf Namen, wenn Sarah sie ruft, aber irgendwas lässt ihr Herz bei ihr höher schlagen.

Der gute alte Futterneid

Ob ich nach diesem Tag im Wolfcenter angstfrei bin? Ich weiß es nicht. Zumindest fühle ich mich gut informiert über das Tier und mögliche Verhaltenstipps. Auch, dass ich beobachten konnte, dass die Tiere tatsächlich eher scheu und zurückhaltend sind und nicht wie Bestien herumlaufen, hat mich beruhigt. Es sei denn, es geht ums Essen. Da haben sie schon ordentlich die Zähne gefletscht. Wie in meinen Albträumen. Aber wer kennt ihn nicht, den guten alten Futterneid. 

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