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Interview: „Vissel for future“ lädt zum Vortragsabend mit Niko Paech

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Von: Jens Wieters

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Harald Gabriel (v.l.), Christian Oddoy und Isa Roth hoffen auf viele Besucher zum Vortrag und Präsentation am 1. Juni im Haus der Bildung.
Harald Gabriel (v.l.), Christian Oddoy und Isa Roth hoffen auf viele Besucher zum Vortrag und Präsentation am 1. Juni im Haus der Bildung. © Wieters

„Die Welt vom Kopf auf die Füße stellen“: Für Harald Gabriel von Vissel for future ist das bewusste Wirtschaften der entscheidende Schritt, um der nahenden Klimakrise etwas entgegenzusetzen. Darüber informiert auch Niko Paech demnächst in Visselhövede.

Visselhövede – Der Wirtschaftswissenschaftler und Nachhaltigkeitsforscher Professor Dr. Niko Paech kommt auf Einladung der Visselhöveder Initiative „Vissel for future“ am Mittwoch, 1. Juni, ab 18 Uhr zu einem Vortrag ins Haus der Bildung und wird dort berichten, wie der für ihn notwendige Wandel zu einer Wirtschaft ohne Wachstum gestaltet werden kann. Im Vorfeld haben wir mit einigen Mitgliedern der Veranstaltergruppe über ein Leben ohne Wirtschaftswachstum gesprochen.

Warum ausgerechnet jetzt ein Vortragsthema, das die ganze Welt fast auf den Kopf stellen will?

Harald Gabriel: Die Welt steht jetzt schon kopf. Es folgt globale Krise auf Krise: Corona-Pandemie, Kriege um Rohstoffe und Extremwetterereignissen in Folge des durch unseren Lebensstil erzeugten Klimawandels. Es wird immer deutlicher, wie wenig krisenfest, aber auch wie umweltschädlich unsere Wirtschaftsweise und unser Lebensstil sind. Schon wenn ein Tanker im Suezkanal quer steht, brechen vielerorts auf der Welt die Lieferketten zusammen. Statt regionale und selbst regulierende Systeme zu stärken, wird weiter auf globale Player und möglichst hohes Wirtschaftswachstum gesetzt. Dabei leben wir insbesondere in den wirtschaftsstarken Industrienationen in vieler Hinsicht über unsere ökologischen Verhältnisse und zerstören die eigenen Lebensgrundlagen auf unseren Planeten. Es wird Zeit, dass wir Schritte machen, die Welt vom Kopf auf die Füße zu stellen.

Wie denn?

Harald Gabriel: Mit regionaleren, resilienteren Formen des Wirtschaftens und bewussterem Alltagsverhalten. Dazu möchten wir mit der Veranstaltung beitragen.

Wie sind Sie auf denn Niko Paech gekommen?

Harald Gabriel: Niko Paech ist in Deutschland einer der bekanntesten Kritiker des Wirtschaftswachstums. Sein Buch „Befreiung vom Überfluss“ wird schon seit mehr als zehn Jahren vielerorts diskutiert und als guter Redner ist er bundesweit ein gefragter Podiumsgast. Mich hat sein konsequenter Ansatz einer Postwachstumsökonomie fasziniert, der eine gezielte Reduzierung des Bruttosozialproduktes fordert. Aber auch seine Aufforderung, den notwendigen gesellschaftlichen Wandel mit praktischen Schritten von unten anzustoßen.

Die wären?

Harald Gabriel: Wir brauchen nicht nur andere politische Rahmenbedingungen, durch die es sich nicht mehr lohnt, auf Kosten von Natur, Umwelt und Menschen in ärmeren Regionen der Welt zu leben. Wir müssen auch selbst die ersten Schritte tun, bei unserer eigenen Bilanz anfangen und mit anderen lernen, zukunftsbewusster zu leben.

Teilen Sie seine Sichtweise eines grundlegenden Wandels von Wirtschaft und Konsum und warum?

Harald Gabriel: Ja. Es ist überfällig, Alternativen zu einer ständig wachsenden und ressourcenfressenden Wirtschaft zu entwickeln. Wir wissen seit gut 50 Jahren von den „Grenzen des Wachstums“ wie es das Forscherteam des „Club of Rome“ damals schon genannt hat. Ein ständiges Wirtschaftswachstum auf einem begrenzten Planeten ist eine Sackgasse. Doch allen wissenschaftlichen Warnungen zum Trotz, geht der Raubbau an unserem Planeten rasant weiter. Die Dramatik der Klimakrise rückt immer näher. Die Frage ist, ob wir die Weichen für die Zukunft endlich freiwillig neu stellen wollen ober ob wir von weiteren Krisen und Katastrophen dazu gezwungen werden.

Gefährdet diese Sicht nicht eine Vielzahl von Arbeitsplätzen vor allem in der Industrie?

Isa Roth: Ein Wirtschaften ohne Wachstum würde tatsächlich Arbeitsplätze besonders in der Industrie verringern. Wenn Produkte möglichst lange halten sollen und sie teilweise auch durch verschiedene Haushalte genutzt werden, dann muss die Industrie tatsächlich weniger Produkte produzieren. Diese müssen jedoch so produziert werden, dass sie lange halten und auch zu reparieren sind.

Und wo haben die Menschen dann noch Arbeit?

Isa Roth: Es können neue Aufgabenfelder entstehen. Es braucht dann mehr Menschen in allen Bereichen, die reparieren, wiederherstellen, renovieren oder gar recyceln können. Auch im Gartenbau, in der Landwirtschaft und im regionalen Vertrieb würden Arbeitsplätze für Menschen in der Region entstehen. Mit der Digitalisierung und der künstlichen Intelligenz werden in Zukunft sowieso weniger Arbeitsplätze benötigt. Für diesen Fall schlägt Niko Paech eine Reduzierung der regulären Arbeitszeit vor und die neugewonnene Zeit stärker im Bereich Selbstversorgung, Tausch, Reparatur, Eigenproduktion und Gemeinnützigkeit zu investieren. Er geht dann von einer höheren Sinnstiftung und Zufriedenheit der Menschen aus. Ich persönlich muss sagen, dass ich mit dem Einstieg in den Gemüseanbau, dem konsequenteren Kauf regionaler Produkte und saisonalem Gemüse und Obst eine höhere Lebensqualität und Zufriedenheit habe.

Muss Arbeit vielleicht ganz neu definiert werden?

Isa Roth: Es braucht tatsächlich eine neue Zielsetzung für Unternehmen. Es geht nicht mehr um Profitorientierung. Die Aufgabe ist eher, einen positiven Beitrag für die Gesellschaft, die Ökosysteme und die Erde als Ganzes zu geben. An diesen Kriterien misst sich dann der Erfolg. Das bedarf eines gänzlichen Umdenkprozesses auf Führungsebene, aber auch im Miteinander der Arbeitnehmer. Vielleicht heißen sie dann Mitunternehmer, Mitgestalter oder es gibt mehr Menschen in Selbstständigkeit. Auf jeden Fall wird Eigenverantwortung, Eigenproduktion und Einbeziehen von Entscheidungsprozessen mehr Bedeutung bekommen. Es geht insgesamt um einen kulturellen Wandel, in dem eine wertschätzende Haltung für Mensch und die ganze Mitwelt im Vordergrund steht. Diesen Wandel können wir nicht von oben erwarten. Wir müssen anfangen, innovative Projekte und Lebensstile zu entwickeln, die insgesamt von unten verändernd wirken.

Was kann jedermann auch im kleinen Visselhövede tun, um Paechs Ideen zu folgen?

Isa Roth: Ein Anfang ist, dass die persönlichen Ansprüche überprüft werden. Um sie sich bewusst zu machen, können Fragen helfen, wie: Was tue ich hier und was brauche ich wirklich? Welche Wirkung haben die Ansprüche auf meine Freizeit? Wie viel Stress habe ich, um das Geld für den allgemeinen Konsum, industriell hergestellte und importierte Lebensmittel, Essen gehen, zwei Autos, vier Flugreisen, fünf Kleiderschränke zu erarbeiten? Und dann bitte kein schlechtes Gewissen entwickeln, sondern einen kleinen ersten Anfang machen. Zum Beispiel einen Secondhand-Laden besuchen und Vorurteile abbauen, oder regionale Gemüsequellen entdecken. Das geht auch mit dem Fahrrad zum Anziehungspunkt und zum Hof Averbeck in Visselhövede oder nach Jeddingen oder Neuenkirchen zu den Dorfläden. Hochwertige Eier, Honig und Kartoffeln gibt es übrigens in vielen Straßenhüttchen auf dem Land.

Warum essen Sie keine Erdbeeren im November?

Isa Roth: Weil ich inzwischen prinzipiell regionale Lebensmittel, am besten aus dem eigenen Garten verzehre. Nur bei Kaffee und Kakao gelingt mir das noch nicht. Außerdem, mal ehrlich unsere Visseler Erdbeeren schmecken einfach besser, wenn sie frisch geerntet im Eisbecher oder auf der Torte landen. Und weil Erdbeeren grundsätzlich sehr schnell verderben, ist die biologische Natur für mich zweifelhaft, wenn Früchte tagelang aus Überseeländern oder per Lkw auf Europas Straßen unterwegs sind.

Neben dem Vortrag stellen sich lokale Initiativen vor. Welche sind das?

Christian Oddoy: Wir haben ein breites Spektrum an Akteuren eingeladen, die in unserer Region aktiv sind wie zum Beispiel solidarische Landwirtschaftsbetriebe, Regio- und Unverpacktläden, den Riepholmer Modellacker, die Regio Challenge Initiative, den Schulbauernhof ackern & rackern. Die Visselhöveder Tafel ist ebenso dabei ebenso wie der Kneippverein. Neben Lebensmitteln geht es auch um das Weiterverwenden von Produkten durch Reparaturen wie in der Nähwerkstatt oder dem Repair-Café, durch gemeinsame Nutzung wie in der offenen Werkstatt Jeddingen oder durch Gebrauchtwaren wie beim Anziehungspunkt oder dem neuen Kinder-Secondhand-Laden von Simbav.

Wer sollte am 1. Juni alles ins Haus der Bildung kommen?

Christian Oddoy: Grundsätzlich alle, die sich für Nachhaltigkeit und eine neue Wirtschaftsform interessieren. Niko Paech macht einen Vorschlag, wie die Wirtschaft in Zukunft aussehen könnte. Ein wichtiger Grundaspekt ist „so regional wie möglich und global wie nötig“. Das Forum mit regionalen Akteuren im Foyer zeigt, wie man diesen Grundaspekt vor Ort praktisch umsetzt. Wer seinen Alltag diesbezüglich umgestalten möchte, ist bei dieser Veranstaltung genau richtig! Es lohnt sich vorbeizuschauen. Der Eintritt ist kostenfrei und eine Anmeldung ist natürlich nicht erforderlich.

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