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Die vergessenen Kinder von Lüdingen

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Von: Judith Tausendfreund

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Drei Gräber erinnern an die Säuglinge. Heinz Promann (v.l.), Michael Drews, Jan Effinger und André Lüdemann schildern die Hintergründe.
Drei Gräber erinnern an die Säuglinge. Heinz Promann (v.l.), Michael Drews, Jan Effinger und André Lüdemann schildern die Hintergründe. © Tausendfreund

In Nazi-Deutschland gehörten Verbrechen in unmittelbarer Nachbarschaft zum Alltag. Daran erinnern sollen drei Gräber auf dem Lüdinger Friedhof. Sie sind Säuglingen gewidmet, die ihr erstes Lebensjahr nicht überlebt haben – Kinder von Zwangsarbeiterinnen.

Lüdingen – Drei Gräber und eine Erinnerungstafel sind nun stille Zeugen einer schwer vorstellbaren Zeit. Sie mahnen und erinnern an den Zweiten Weltkrieg, an die Zeit des Nationalsozialismus, aber vor allem auch an Verbrechen, die in unmittelbarer Nachbarschaft begangen wurden. Sie erinnern an die Zeit, in der Zwangsarbeiter, die verschleppt worden waren, vor allem auch in der Landwirtschaft eingesetzt wurden – überall in Deutschland. Und eben auch in Lüdingen.

Um an deren Schicksal öffentlich zu erinnern, haben Visselhövedes Bürgermeister André Lüdemann, Jan Effinger als Geschäftsführer des Bezirksverbandes Lüneburg/Stade des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge (VDK), Michael Drews vom Bau- und Umweltamt Visselhövede und Heinz Promann, ehemals Berufsschullehrer an den BBS Rotenburg, auf dem Lüdinger Friedhof eine Tafel und drei neu hergerichtete Gräber eingeweiht.

Als Datum hatten sie bewusst den 27. Januar ausgewählt, den internationalen Holocaust-Gedenktag. Promann, der auch als Gemeindearchivar in Scheeßel aktiv ist, widmet sich seit vielen Jahren der Geschichte des Landkreises. Seine Recherchen hatten auch das Schicksal der drei verstorbenen Lüdinger Kinder aufgedeckt, an die mit der Tafel erinnert werden soll. „Es waren drei Kinder, die ohne den Zweiten Weltkrieg und den Nationalsozialismus keine Opfer gewesen wären“, so der ehemalige Geschichtslehrer Promann.

Zwangsarbeit auf den Höfen

Alle drei Kinder waren ukrainischer Herkunft, ihre Mütter waren sogenannte Ostarbeiterinnen aus der ehemaligen UdSSR und sie waren zur Zwangsarbeit auf den Lüdinger Höfen eingesetzt. Trotz der ohnehin widrigen Umstände wurden die Frauen schwanger und bekamen Kinder. „Diese Kinder wurden in die Kinderverwahranstalt Riekenbostel gebracht und dort zu Tode gepflegt, man wollte die Arbeitskraft der Frauen weiter nutzen“, erläutert Promann.

Bis zu 30 Kinder waren in dem schlecht beheizten Haus untergebracht. Die Mütter durften ihre Kinder nur alle 14 Tage sehen, dementsprechend konnten sie diese auch nicht stillen. 1944/45 war ein kalter und harter Winter – die Kinder Halla Nikolawa, Bartja Racsorowska und Waltraud Swerdjuk wurden kein Jahr alt. Schon damals wurden sie auf dem Lüdinger Friedhof begraben. „Es gibt alte Unterlagen, auf denen die Gräber eingezeichnet sind“, weiß Promann. Allerdings hatten die Gräber zwischenzeitlich nicht unter Schutz gestanden. Erst 1966 kam es zu einem Ministererlass, in der Folge wurden Kindergräber als Kriegsgräber anerkannt – dennoch hatte man die Gräber in Lüdingen in den 1970er-Jahren eingeebnet, wahrscheinlich aus Unwissenheit.

Auch das hatte die Recherchearbeit von Promann ergeben. Die Stadt Visselhövede hatte daraufhin beschlossen, die Gräber in etwa an der ursprünglichen Stelle wieder neu herzurichten, der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge hatte das Projekt unterstützt. „Wir haben die Gräber bewusst als Einzelgräber hergerichtet, sie sollen auch als solche wahrgenommen werden“, berichtet Drews. Der jetzige Standort sei aber nicht exakt der ursprüngliche Standort. Gleichzeitig wurde eine Aufnahme der drei Gräber in die Kriegsgräberliste beantragt, dem auch stattgegeben wurde. „Vor vier Jahren hatte ich meinen ersten Austausch mit Michael Meyer, Geschäftsführer des Kreisverbandes Rotenburg des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge, in der Sache. Schon da war die Überlegung entstanden, die Gräber wiederherzustellen“, blickt Promann zurück. „Ich bin glücklich, dass dies nun gelungen ist.“

Opfer der Ideologie

Bezirksgeschäftsführer Effinger betont, dass das Bemühen um die Kriegsgräber die Aufgabe des Volksbundes sei. Noch im letzten Jahr habe man 15 000 Tote des Zweiten Weltkriegs geborgen und auf entsprechende Kriegsgräber umgebettet. Geplant seien sogar 25 000, vor allem in Osteuropa, gewesen.

Doch durch den Ukraine-Krieg sei diese ursprüngliche Planung nicht ganz umzusetzen gewesen. „Auch hier im Inland befassen wir uns mit den Kriegstoten, die Erinnerung an die Opfer ist uns wichtig“, so Effinger weiter. „Wir begreifen unsere Arbeit vor allem auch als Bildungsarbeit.“ So ist die Erinnerungstafel neben den Gräbern eine Informationsquelle für Besucher. „Es geht auch darum, zu vermitteln, dass der Zweite Weltkrieg nicht weit entfernt, sondern direkt hier stattgefunden hat“, sagt Effinger.

Die Säuglinge seien Opfer der damaligen Ideologie geworden, sie waren unerwünscht, da sie als Kinder der Zwangsarbeiterinnen auf die Welt kamen. Die Gedenktafel sei ein weiteres Mosaiksteinchen in dem Bemühen, bewusster mit der eigenen Geschichte umzugehen. Promann verweist auf ein Buch, das von der 1997 verstorbenen Hebamme Emmy Krüger herausgebracht worden war. Auch sie hatte die Kinderverwahranstalt miterlebt und die Kinder dort besucht – sie war eine Zeitzeugin, die genau beschrieben hatte, wie es dort zuging. Als weitere Quellen seiner Recherche benennt Promann das Kreisarchiv in Bremervörde, dort wurde eine entsprechende Akte angelegt.

„Ich bin froh, dass es Menschen wie Heinz Promann gibt“, betont Bürgermeister Lüdemann. Früher sei in solchen Zusammenhänge oft die Schuldfrage gestellt worden, heute ginge es eher um das Mahnmal, welches wichtig sei. „Vor allem für die heutige Generation, die nur noch wenig Kontakt zu Zeitzeugen hat, sind solche Mahnmale mehr als wichtig“, so der Bürgermeister.

Er betont auch, wie fragil der Frieden sei und dass in der Ukraine erneut Kinder durch den Krieg sterben. Promann ergänzt: „Es ist wichtig, solche Gedenktafeln und Erinnerungen hier vor Ort greifbar und erlebbar zu gestalten.“

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