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Rotenburger Politik vermisst Lösungen in der Flüchtlingspolitik

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Von: Jens Wieters, Michael Krüger

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Wohncontainer am Glummweg
Derzeit stehen noch einige Wohncontainer am Rotenburger Glummweg leer. Das wird sich ändern. © Schultz, Andreas

Ein Jahr nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine beschäftigt die Flüchtlingspolitik auch die Kommunen im Kreis Rotenburg weiter stark. Probleme werden vor Ort gelöst - aber Lösungen der „großen“ Politik gibt es zu wenig, so die Kritik.

Rotenburg – Bei einem Thema wird der Landrat dann doch deutlich mehr zum politischen Menschen. Zur Begrüßung beim Pressegespräch im Kreishaus, bei dem es um einen grundsätzlichen Ausblick auf die Themen des neuen Jahres gehen soll, zitiert Marco Prietz noch seinen alten Chef in der Osterholzer Kreisverwaltung. Der habe seine Pressegespräche oft damit eingeleitet, dass das Wesentliche bereits gesagt sei. Das, was Prietz zum Auftakt seines zweiten vollen Amtsjahres vorstellen will, ist auch vorgezeichnet – und als Pressemitteilung überreicht worden. Als es jedoch kurz vor dem Jahrestag des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine um Flüchtlingssituation und Flüchtlingspolitik geht, legt Prietz alles Vorbereitete zur Seite. Der CDU-Politiker sieht, so abgedroschen es klingt, in gewisser Weise schwarz.

Zu wenig Geld für Kommunen?

Prietz stockt kurz, dann sagt er den Satz doch: „Deutschland fährt sehenden Auges gegen die Wand.“ Die Erwartungen des Rotenburger Landrats waren vielleicht nicht so hoch wie die mancher Kollegen anderer politischer Färbungen, aber sie wurden dennoch enttäuscht. Am Donnerstag vergangener Woche wollten Bund, Länder und Kommunen bei einem Flüchtlingsgipfel in Berlin eine bessere Abstimmung zur Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen vereinbaren. Aber beim zentralen Thema gab es keine Zusage von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD): Es gibt nicht mehr Geld für die Kommunen.

Mehr als 2.000 Menschen aus der Ukraine im Kreis

Aus Prietz’ Sicht sind somit die übermäßig belastet, die das vor Ort lösen müssen, was die „große Politik“ verantwortet. Und die, so seine Kritik, stelle auch nicht die richtigen Weichen. „Deutschland ist in der Flüchtlingspolitik in Europa isoliert.“ Die Aufnahmefähigkeit gerate an seine Grenzen. Er habe nicht den Eindruck, dass die Bundesregierung die Dramatik der Situation in den Kommunen erkenne. Das gelte auch für die Region. Selbst wenn bislang alles geregelt werden konnte, werde es künftig „grenzwertig, die Zahlen zu wuppen“. Am Montag hatte Prietz die 13 Hauptverwaltungsbeamten des Landkreises darüber informiert, was in den kommenden Wochen bei diesem Thema zu erwarten sei: Obwohl Niedersachsen aktuell keine ukrainischen Flüchtlinge zugewiesen bekomme, weil die Quoten Ende 2022 schon für Monate erfüllt waren, reiße der Zustrom nicht ab. In den kommenden Monaten würden im Landkreis 700 weitere Geflüchtete erwartet. Damit liege man auf dem Niveau des vergangenen Jahres nach dem Kriegsausbruch, bislang hätten mehr als 2 000 Ukrainer den Landkreis erreicht. Prietz spricht jetzt von einem „ganz großen Mix an Nationalitäten“, der erwartet werde. Der Schwerpunkt der Herkunftsländer liege in Syrien und Afghanistan, aber es sei „alles“ dabei. Selbst aus Kolumbien erreichten Menschen die Region.

Marco Prietz am Rednerpult
Landrat Marco Prietz weiß, dass das Thema Unterbringung und Integration von Geflüchteten ein großes bleiben wird im Landkreis Rotenburg. © Guido Menker

Wohnungen, Flüchtlingsunterkünfte, Sammelunterkünfte, Turnhallen – wo jetzt noch Platz sei, würden die Plätze bald komplett belegt sein. Dabei gehe es gar nicht nur darum, den Menschen ein Dach über den Kopf zu geben, sondern vor allem um Integration. „Große Herausforderungen für Landkreis und Kommunen sind dabei die Unterbringung, die Beschulung beziehungsweise Betreuung der Kinder in Schulen und Kitas, der Spracherwerb sowie die Vermittlung in Arbeit“, sagt Prietz.

Wohnungsnot wird größer

Das koste viel Personal und damit viel Geld. „Allein im Jahr 2022 hat der Bund die Länder und Kommunen finanziell mit 3,5 Milliarden unterstützt, für dieses Jahr haben wir 2,75 Milliarden vereinbart“, heißt es von der Innenministerin. Vor Ort klingt es anders, wenn kritisiert wird, dass die eh schon gebeutelten Haushalte der Kommunen durch die Folgen von Krieg und Flucht auf der Welt zusätzlich stark belastetet werden.

Es gibt Konfliktpotenzial. Die Frage knapper werdenden Wohnraums wird eine dringlichere, weiß Prietz. Der Landkreis hat Ende 2022 sein Wohnraumversorgungskonzept vorgelegt. Gerade im Bereich Sozialwohnungen gibt es großen Nachholbedarf, landesweit ist kein Landkreis schlechter aufgestellt als Rotenburg, hat die Analyse ergeben. Diejenigen, die jetzt notdürftig untergebracht werden und bleiben wollen, suchen irgendwann eigene Wohnungen. Die Idee einer eigenen Wohnungsbaugesellschaft beschäftigt die Kreispolitik. Und auch wenn er weiß, dass er das schon öfter gesagt hat, betont Prietz: „Das alles wird uns weiter sehr beschäftigen.“

Rotenburger Planung wird gebraucht

In der Stadtratssitzung am Donnerstag vergangener Woche hatte Rotenburgs Bürgermeister Torsten Oestmann noch von einem „Blick in die Glaskugel“ gesprochen, was die Entwicklung der Flüchtlingszahlen in der Kreisstadt betrifft, jetzt haben er und seine Kollegen in den 13 Kommunen des Kreises Gewissheit. Bis Ende Mai erwartet der Landkreis rund 700 weitere Geflüchtete. Das hat Landrat Marco Prietz (CDU) in der wöchentlichen Videokonferenz mit den Hauptverwaltungsbeamten mitgeteilt. 175 geflüchtete Menschen leben derzeit in Häusern und Wohnungen der Stadt Rotenburg, 63 davon aus der Ukraine. Viele Ukrainer seien aber auch privat untergebracht und würden entsprechend gar nicht in der Statistik erfasst werden, hieß es vergangene Woche. 87 Geflüchtete leben im Campus Unterstedt, 26 im Containerdorf auf dem ehemaligen Rathsmann-Grundstück am Glummweg.

Knapp 90 Wohncontainer hatte die Stadt durch vorausschauende Planung gemietet und im November auf dem Areal, das irgendwann Wohngebiet werden soll, aufstellen lassen. Anders als zum Beispiel in Zeven mussten in Rotenburg dadurch keine Turnhallen als Notunterkünfte hergerichtet werden. Zudem gibt es ja den Campus auf dem Gelände der ehemaligen Lungenklinik in Unterstedt. Sah es Ende des vergangenen Jahres noch so aus, dass die Kapazitäten gar nicht gebraucht werden, betont Oestmann nun: „Wir sind sehr froh, dass wir die Container haben.“ Bleibe es bei den erwarteten Zahlen, seien Campus und Containerdorf bald komplett belegt.

Wie Landrat Prietz sieht Oestmann die Kommunen bei Unterbringung und Integration von Bund und Land nicht ausreichend unterstützt. Geld für Logistik, Sicherheitsdienst und Sozialkräfte gebe es deutlich zu wenig: „Wir werden da im Regen stehen gelassen.“

Es wird aber auch wieder um die allererste Hilfe gehen. Und dabei bleiben Notunterkünfte im Blickfeld, die die Landesaufnahmestellen entlasten. Die Wohnblöcke in der Visselhöveder Lehnsheide, in den früher Soldaten gelebt haben und die in den vergangenen Monaten vor allem Flüchtlingen aus der Ukraine eine vorübergehende Heimat als Notunterkunft geboten haben, sind aktuell ein wenig verwaist. Wo sonst Kinderlachen zu hören war, ist es aktuell sehr still. Nur ab und an sieht man Menschen durch die Gänge huschen. Aktuell leben dort noch rund ein Dutzend Menschen. Der DRK-Kreisverband Bremervörde betreut diese. „Da das Flüchtlingsaufkommen aktuell eher gering ist, hat das DRK in Absprache mit dem Landkreis die Zahl der Beschäftigten auf acht bis zehn Kräfte reduziert. Ehrenamtliche sind vor Ort nicht tätig“, berichtet Kreissprecherin Christine Huchzermeier auf Nachfrage. Die Mietverträge mit der Firma JBS für die Gebäude sei unbefristet abgeschlossen, können aber von beiden Seiten mit einer monatlichen Kündigungsfrist beendet werden. Der Landkreis, betont Huchzermeier, sei JBS für die erneute schnelle und unkomplizierte Zusage für die Unterkunft sehr dankbar. Wie lange diese noch betrieben wird, sei unklar: „Der Vertrag mit dem DRK-Kreisverband Bremervörde läuft noch bis zum 30. Juni dieses Jahres. Sollte die Notunterkunft im Anschluss bestehen bleiben, findet gemäß des geltenden Vergaberechts für öffentlich Aufträge ein öffentliches Ausschreibungsverfahren statt.“ Eine Nachnutzung der Gebäude durch den Landkreis für einen anderen Zweck sei allerdings nicht vorgesehen.

Vor allem Frauen und Kinder

Überwiegend seien es auch heute noch Frauen und Kinder sowie ältere und gesundheitliche eingeschränkte Männer, die als Geflüchtete ankommen. Da Niedersachsen aber in den vergangenen Wochen überproportional viele Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen hat, würden diese aktuell auf andere Bundesländer verteilt. Das bedeutet, dass zurzeit nur Ukrainer in den Landkreis kommen, die bereits Familienangehörige vor Ort haben. Huchzermeier: „Der Krieg dauert an und keiner weiß, wann und wie er endet, insofern ist nicht vorhersehbar, wie sich die Lage weiter entwickeln wird.“ Dass die alte Kaserne erneut als Notunterkunft genutzt wird, sei auch bei zwischenzeitlich geringer Auslastung kein Fehler. „Das Betreiben einer Notunterkunft war aus damaliger und jetziger Sicht genau richtig, um den rasch ansteigenden Flüchtlingsstrom zu bewältigen und die Kommunen bei der Unterbringung der Geflüchteten zu unterstützen.“

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