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Essstörungen: „Wie ein Krebsgeschwür“

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Eine Essstörung kann das ganze Leben bestimmen. Am häufigsten tritt die Bulimie auf. Gerade junge Frauen sind betroffen. Hilfe gibt es zum Beispiel auf der Psychotherapiestation am Agaplesion Diakonieklinikum. - Foto: imago
Eine Essstörung kann das ganze Leben bestimmen. Am häufigsten tritt die Bulimie auf. Gerade junge Frauen sind betroffen. Hilfe gibt es zum Beispiel auf der Psychotherapiestation am Agaplesion Diakonieklinikum. - Foto: imago

Rotenburg - Von Inken Quebe. Die Gedanken kreisen nur noch um Kalorien, Gewicht und Diät, das ist zum Lebensinhalt geworden. Von einer Essstörung sind besonders junge Frauen häufig betroffen. Professor Andreas Thiel, Chefarzt der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Agaplesion Diakoniklinikum Rotenburg, spricht im Interview über die Unterschiede zwischen Bulimie und Magersucht und erklärt, wie das soziale Umfeld darauf reagieren kann, wenn es helfen möchte.

Herr Professor Thiel, behandeln Sie essgestörte Patienten im Diakonieklinikum?

Professor Andreas Thiel: Menschen mit Essstörungen werden hier im Diakonieklinikum vor allem in drei Bereichen behandelt. Wir haben sie häufig in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, weil es Krankheiten sind, die – nicht immer, aber häufig – um die Pubertät herum oder danach beginnen. Bei Jungen wie bei Mädchen. Außerdem behandeln wir Patienten mit Essstörungen in der Kinderklinik. Vor allem dann, wenn sie sehr stark unterernährt sind und dort stationär aufgenommen werden, um überhaupt erst einmal an Gewicht zuzunehmen. Zu guter Letzt behandeln wir Erwachsene ab dem 18. Lebensjahr mit Essstörungen in der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. In keiner der drei genannten Kliniken ist das der ausgesprochene Schwerpunkt. Deswegen ist die Zahl insgesamt nicht sehr groß. Aber wir behandeln sie, haben die Kapazitäten auch gerade im Bereich der psychosozialen Medizin ausgebaut.

Gibt es denn heute mehr Patienten als früher?

Thiel: Bei uns sind es mehr geworden, weil wir mehr Behandlungskapazitäten zur Verfügung stellen und die Patienten früher häufiger weggeschickt haben. Das Krankheitsbild selbst nimmt wahrscheinlich nicht zu, dafür gibt es keine seriösen Hinweise. Aber es gibt Veränderungen: Für die Hochrisikogruppe der Mädchen und jungen Frauen ist der Einfluss durch das Internet und die sozialen Medien gestiegen. Da gibt es sogar Wettbewerbe.

Was sind das für Wettbewerbe?

Thiel: Zum Beispiel, ob die Taille hinter die kurze Seite eines DIN-A-4-Blattes passt oder ob eine Münze oder eine Reihe von Münzen auf dem Schlüsselbein liegen können. Von solchen Wettbewerben bekommen viele Erwachsene nichts mit. Wir reden bei der Entstehung einer Essstörung von soziokulturellen Faktoren, also Erwartungen der Gesellschaft, attraktiv und leistungsfähig zu sein. Das Anstreben einer vermeintlichen Idealfigur oder einer übermäßigen Schlankheit hat es auch schon früher gegeben, aber das wird heute noch einmal anders transportiert.

Durch die sozialen Medien?

Thiel: Die spielen eine große Rolle. Trotzdem glauben wir nicht, dass Essstörungen mehr geworden sind. Die Menschen nehmen es heute stärker wahr. Es ist zu hoffen, dass Betroffene jetzt vielleicht auch früher professionelle Hilfe bekommen.

Welche Krankheiten gibt es denn neben Bulimie und Magersucht, die unter den Begriff „Essstörung“ fallen?

Thiel: Es gibt zum Beispiel die sogenannte Binge-Eating-Störung – Binge vom englischen Ausdruck für Schlingen. Damit bezeichnet man ein Krankheitsbild, bei dem Menschen Essanfälle haben, in denen sie außergewöhnlich große Mengen in sehr kurzer Zeit essen und dabei den Eindruck haben, dass sie die Kontrolle verlieren. Damit ist nicht gemeint, wenn man abends vor dem Fernseher eine Tafel Schokolade isst. Sondern es geht um wirklich große Mengen, also beispielsweise mehrere Tafeln Schokolade, drei Tüten Chips, eine Packung Weißbrot. Diese Menschen sind in der Regel übergewichtig. Sie fallen seltener auf, sie sind aber auch unglücklich.

Wo liegen überhaupt die Unterschiede zwischen Bulimie und Magersucht?

Thiel: Hauptmerkmal der Magersucht ist das Untergewicht. Das Körpergewicht liegt weiter unter dem, was als gesund und normal angesehen wird. Die Menschen essen weniger, weil sie ein niedriges Gewicht anstreben. Sie fühlen sich zu dick und haben eine verzerrte Wahrnehmung vom eigenen Körper. Das Gewicht und die Figur haben einen unverhältnismäßig großen Einfluss auf das Selbstwertgefühl. Wir reden hierbei nicht von einer Figur, die einem gängigen Schönheitsideal entspricht. Viele magersüchtige Menschen sehen verhungert aus, das ist erschreckend.

Und im Unterschied zur Bulimie?

Thiel: Das ist ein bisschen schwierig, weil sich die Diagnose-Kriterien geändert haben. Meistens versteht man darunter, dass die Bulimie durch Essanfälle und kompensatorische Maßnahmen, um dem Gewichtsanstieg zu entgehen, gekennzeichnet ist. Das gibt es mit oder ohne Untergewicht.

Welche der beiden Krankheiten gibt es häufiger?

Thiel: Die Bulimie tritt häufiger auf als die Magersucht.

Zwar sind Mädchen und Frauen häufiger betroffen. Trotzdem leiden auch Jungs und Männer unter Essstörungen. Gibt es Unterschiede im Krankheitsbild?

Thiel: Bei Jungen sehen die Krankheitsbilder im Grunde genauso aus. Es entspricht nur nicht dem männlichen Schönheitsideal, so dünn auszusehen. Das Schönheitsideal ist eher ein muskulöser Körper, und das ist mit einer so starken Gewichtsabnahme nicht verträglich.

Was sind die Auslöser?

Thiel: Früher hat man oft gedacht, es liege am Elternhaus. Das kann man so nicht sagen. Die Auslöser sind individuell. Menschen können in Belastungssituationen eine psychische Erkrankung entwickeln. Häufig sind es Probleme im familiären, schulischen oder sozialen Umfeld – dort, wo mein Leben gerade stattfindet. Menschen können in Situationen kommen, in denen sie für Probleme oder Konflikte keine gute Lösung finden. Wenn dann das Selbstbewusstsein nicht stark genug ist, kann das Auftreten einer Essstörung begünstigt werden. Die Gewichtsabnahme erscheint als Ausweg, wenn es der Betroffenen gelingt, abzunehmen. Auf diesem Gebiet erlebt sie sich plötzlich erfolgreich. Vielleicht sagt sogar jemand „Du siehst ja toll aus, hast ein bisschen abgenommen.“

Was ist die Folge?

Thiel: Daraus ergibt sich ein Teufelskreis, und das Denken über Diät und Gewicht dominiert am Ende alles. Das kann wie ein Krebsgeschwür sein, das sich in das ganze Leben frisst, vor allem bei den schwer verlaufenden Magersuchterkrankungen.

Wie wird so ein Patient dann behandelt?

Thiel: Die verschiedenen Psychotherapie-Schulen sehen das ein bisschen unterschiedlich. Es gibt eine weitgehende Übereinstimmung dahingehend, dass die Behandlung auf zwei Säulen steht. Die eine ist die Psychotherapie, die sich mit den vorhandenen Problemen und Konflikten beschäftigt, unter der Annahme, dass sie vielleicht auch Auslöser sind. Dabei ist die Frage wichtig, wie das Selbstwertgefühl der Patientin stabilisiert werden kann.

Was ist die zweite Säule?

Thiel: Wenn die Patientin zu stark abgenommen hat, wird es körperlich so bedrohlich, dass eine Gewichtszunahme unbedingt notwendig ist. Allein durch die Gewichtsabnahme kann der Mensch eine schwere Depression bekommen. Deswegen müssen Gewichtszunahme und Psychotherapie parallel laufen. 

Die meisten Magersüchtigen haben die Essstörung schon sieben bis acht Jahre, bevor sie zum ersten Mal in stationäre Behandlung kommen. Wenn sie über viele Jahre ein so ausgewähltes Essverhalten haben, können sie das nicht ohne Weiteres ablegen. Viele der Betroffenen haben eine schwarze Liste von Lebensmitteln, die sie sich verbieten, weil sie glauben, die machten zu fett. Viele können keine warmen Mahlzeiten oder in Gemeinschaft essen, weil sie glauben, dass der andere auf den Teller guckt und die Kalorien mitzählt.

Wie stehen die Chancen auf Heilung?

Thiel: Wenn die Patienten eine gute Therapie machen, geht es nach etwa zwei Jahren nur ungefähr der Hälfte deutlich besser. Es gibt auch Menschen, die es ganz schaffen, da wieder herauszukommen. Es ist auch immer die Frage: Was ist eigentlich „gesund?“ Es ist nicht wie bei einer Krebserkrankung, bei man sagen kann, die ist jetzt weg. Aber diese Patienten haben einen deutlich gesünderen, normaleren Gewichtsbereich erreicht, und die Bedeutung von Essen tritt in den Hintergrund. 

Viele bleiben aber ihr Leben lang in chronischen Verläufen gefangen. Gerade bei der Magersucht gibt es einen nicht unerheblichen Teil, der daran stirbt. Innerhalb von zehn Jahren sterben etwa fünf Prozent. Das ist viel.

Bei einem alkoholkranken Menschen heißt es ja häufig, dass dieser nie richtig geheilt ist und schon bei einem Tropfen rückfällig werden kann. Tritt so etwas vergleichbar auch bei der Magersucht auf?

Thiel: Eine Frau, die gut von der Behandlung profitiert hat, wird nicht rückfällig, wenn eine Kleinigkeit passiert. Sie ist aber gefährdet, wenn sie in eine Lebenskrise kommt – Trennung, Krankheit, irgendeine Form von Stress –, dass sie wieder auf dieses Verhalten zurückgreift, das sie schon mal gewählt hat, um sich zu stabilisieren. Das bleibt ein Risiko. Aber man wird nicht von heute auf morgen einfach wieder magersüchtig.

Wie können Eltern oder das soziale Umfeld erkennen, dass jemand an einer Essstörung leidet?

Thiel: Eltern, Familie, Freunde und Lehrer können es vor allen Dingen daran sehen, wenn ein Mensch stark abnimmt. Dann sollten sie sich auch trauen, denjenigen – freundlich und mit ausgewählten Worten – darauf anzusprechen. Man kann zum Beispiel sagen: „Ich mache mir Sorgen um dich, du isst gar nichts mehr, hast sehr stark abgenommen, geht es dir nicht gut?“ Wenn kein Untergewicht da ist, ist es sehr viel schwerer zu erkennen. Essanfälle im Verborgenen kriegen Außenstehende erst einmal nicht mit. Merken könnte man aber, wenn anders als früher warme Mahlzeiten vermieden werden.

Welche ersten Anlaufstellen gibt es?

Thiel: Betroffene können beispielsweise zunächst mit dem Hausarzt sprechen. Darüber hinaus können sie sich an einen Psychotherapeuten oder Psychiater wenden und sich beraten lassen, welche Therapie geeignet ist. Kernbehandlung ist immer die Psychotherapie. Medikamente spielen nur eine untergeordnete Rolle. Man muss auch schauen, wie die körperliche Situation ist, ob schon Schäden eingetreten sind.

Wie sollten Eltern damit umgehen, wenn sich das essgestörte Kind völlig verschließt?

Thiel: Dann ist es schwierig. Da gibt es keine Patentlösung. Ich würde immer empfehlen, im Gespräch zu bleiben und unnötigen Streit zu vermeiden. Eltern sollten deutlich machen, ich sehe, dass es dir nicht gut geht, und ich verschließe nicht die Augen davor.

Die Aufnahme auf der Psychotherapiestation, auf der auch Patienten mit einer Essstörung behandelt werden, erfolgt nach vorheriger Anmeldung und einem ambulanten Vorgespräch, in dem die Ärzte mit dem Betroffenen die Notwendigkeit und die möglichen Ziele einer stationären Behandlung besprechen. 

Für weitere Informationen und für die Anmeldung zum Vorgespräch ist die Station unter der Telefonnummer 04261 / 776710 zu erreichen oder per E-Mail an pychosomatik@diako-online.de. Weitere Informationen gibt es im Internet.

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