Welttag der Suizidprävention: Niemals wegschauen!

Rotenburg – Jedes Jahr sterben in Deutschland etwa 9.000 Menschen durch Suizid. Doch das Thema wird in der Öffentlichkeit weitgehend verdrängt und tabuisiert. Grund genug für Professor Carsten Konrad, Chefarzt im Zentrum für Psychosoziale Medizin am Diakonieklinikum Rotenburg, zum „Welttag der Suizidprävention“ am 10. September darauf aufmerksam zu machen, welche Fortschritte und Hilfen es gibt.
Der Welttag zur Suizidprävention soll Aufmerksamkeit für ein Thema wecken, das noch sehr tabuisiert wird. Sollte man offener damit umgehen?
Der Welttag zur Suizidprävention steht unter dem Motto „Aktiv werden und Hoffnung schaffen“. Er soll darauf aufmerksam machen, dass es Hilfen und Unterstützungsmöglichkeiten für Menschen gibt, die an Selbsttötung denken. Dass es Auswege für sie gibt. Und es soll der bisherigen Erfolge der Suizidprävention gedacht werden, die in den vergangenen Jahren sehr erfolgreich dazu beigetragen hat, die Anzahl zu senken. Es soll der Suizidopfer und auch ihrer Angehörigen gedacht werden, die oft sehr unter der Situation leiden. Bemerkenswert ist, dass es unter anderem gelungen ist, die Anzahl Suizidtoter von etwa 20.000 pro Jahr in den 80er-Jahren auf aktuell unter 10.000 pro Jahr zu senken. Immer noch viel zu viele: Das sind deutlich mehr Menschen als bei Verkehrsunfällen ums Leben kommen, deshalb bleibt Suizidprävention eine sehr wichtige Aufgabe. Das Thema Suizidalität soll insofern kein Tabu sein, weil ein Tabu den Betroffenen die Möglichkeiten nimmt, sich Hilfe und Unterstützung zu holen.
Für uns als Pressevertreter gilt es als ungeschriebenes Gesetz, im Regelfall nicht über Suizide zu berichten. Warum ist das so? Würde ein offenerer Umgang damit in den Medien helfen?
Die Selbstbeschränkung der Presse, nicht über Suizide zu berichten, hat einen guten Grund, nämlich den Nachahmungseffekt zu vermeiden. Dieser wird manchmal auch Werther-Effekt genannt, weil es nach der Veröffentlichung von Goethes Roman „Die Leiden des jungen Werther“ im Jahr 1774 einige Nachahmungstaten gegeben haben soll. Auch in der modernen Zeit sind Nachahmungseffekte wissenschaftlich gemessen worden. Insofern ist die Thematisierung, auch im Rahmen dieses Interviews, eine schwierige Gratwanderung. Meines Erachtens macht die Thematisierung in Medien nur Sinn, wenn der Aspekt der Vermeidung von Suiziden und die Hilfsmöglichkeiten im Vordergrund stehen.

Aus welchen Gründen begehen Menschen Suizid? Warum sehen sie manchmal keinen anderen Ausweg?
Die überwiegende Anzahl von Suiziden und Suizidversuchen sind auf schwere psychische Erkrankungen zurückzuführen, wissenschaftlich nachgewiesen bei mehr als 90 Prozent. Zu den Erkrankungen zählen in erster Linie schwere Depressionen, die den überwiegenden Anteil ausmachen, aber auch Suchterkrankungen und Psychosen. Ein Teil von Suiziden ist auf gesellschaftliche Faktoren in Verbindung mit der individuellen Lebenssituation zurückzuführen. Wir sprechen dann von psychosozialen Krisen oder Lebenskrisen. Das bedeutet, Suizidalität kann im Rahmen von Flucht und Vertreibung, Obdachlosigkeit, Verschuldung, Konflikt- oder Trennungssituationen oder schwerer Krankheit entstehen. Kennzeichnend für Menschen, die im Rahmen einer psychischen Erkrankung oder in einer psychosozialen Krise an Selbsttötung denken, ist die Einengung des Denkens auf den Suizid. Andere Lösungsmöglichkeiten und Alternativen können oft nicht mehr gedacht oder erkannt werden. Das Denken und Fühlen befindet sich wie in einem Tunnel oder einem Abwärtsstrudel mit nur einem möglichen Ausgang. Dies kann ein Prozess sein, der mehrere Wochen dauert, manchmal auch nur wenige Stunden oder Minuten. Während dem Außenstehenden oft viele Handlungsmöglichkeiten und Problemlösungen einfallen, ist der Betroffene von der Ausweglosigkeit seiner Situation überzeugt. Insofern ist Suizidalität im Rahmen einer psychischen Erkrankung Ausdruck gedanklicher Einengung und fehlender Wahlmöglichkeiten, daraus leitet sich die Notwendigkeit ab, Hilfe und Unterstützung anzubieten.
Welche Möglichkeiten der Prävention gibt es?
Es gibt glücklicherweise eine Vielzahl von Vorsorgemöglichkeiten. Die wichtigste Vorsorgemaßnahme ist es, psychische Erkrankungen rechtzeitig zu erkennen und zu behandeln. Die herabgesetzte Stimmungslage, das andauernde Gefühl von Traurigkeit und Bedrücktsein, mangelnde Energie und Kraftlosigkeit, die fehlende Motivation und der fehlende Antrieb sind Kernsymptome einer Depression. Dazu kommen häufig Schlafstörungen, am häufigsten Erwachen in den frühen Morgenstunden, oft verbunden mit Grübeln über Problemthemen, die durch das Grübeln nicht besser werden, Appetitverlust, Schuldgefühle, Entscheidungsunfähigkeit, und auch Lebensüberdruss, Gedanken an das Sterben oder an Suizid. Keines dieser Symptome für sich genommen macht eine Depression aus, aber mehrere zusammen sind oft Warnsignal, dass eine Erkrankung vorliegt. Die gute Nachricht ist, dass man die meisten Depressionen gut behandeln kann, psychotherapeutisch und durch antidepressive Medikamente. Ähnliches gilt für Suchterkrankungen und Psychosen. Aber auch in psychosozialen Notlagen und Lebenskrisen gibt es oft eine Vielzahl von Hilfsmöglichkeiten, mit denen man verhindern kann, dass ein Mensch in eine suizidale Krise rutscht. Um Angebote und Hilfe zu nutzen, ist es ganz wichtig, dass psychische Erkrankungen nicht als „Stigma“ betrachtet werden. Jeder Mensch kann psychisch erkranken. Psychische Erkrankungen verdienen keine andere gesellschaftliche Einordnung als körperliche Erkrankungen, sie dürfen keinen Sonderstatus haben. Indem wir diese Botschaft verbreiten, senken wir die Hemmschwelle, sich Hilfe und Behandlung zu holen. Eine weitere Präventionsmöglichkeit besteht darin, besondere „Anziehungspunkte“ für Menschen mit Selbsttötungsabsichten zu sichern, zum Beispiel bestimmte Brücken oder Türme. Interessanterweise führt dies zu einem messbaren Rückgang der Suizidraten. Die genannten Präventionsmöglichkeiten werden unter anderem im Rahmen des Bündnisses gegen Depression, das ja auch im Landkreis Rotenburg sehr aktiv ist, verfolgt.
Wer begeht Suizid, gibt es dazu Statistiken?
Anders als man annehmen mag, steigt die Suizidrate kontinuierlich mit dem Alter, ist also kein Phänomen der Jüngeren. Das bedeutet, dass Senioren das höchste Suizidrisiko haben. Dabei spielen Themen wie Einsamkeit, körperliche Erkrankungen, Verlust von Freunden und Partnern eine große Rolle. Auch das Geschlecht: Männer verüben viel häufiger Suizide als Frauen, was man teilweise mit biologischen, teilweise mit sozialen Faktoren erklären kann. Statistisch gesehen geht die Suizidrate in Deutschland glücklicherweise stark zurück.
Warum sollen wir nicht von Selbstmord sprechen?
Mord ist eine Straftat, die Tötung eines Menschen „aus niedrigen Beweggründen“, wie das Strafgesetzbuch sagt. Das trifft auf Menschen, die aufgrund einer psychischen Erkrankung oder in einer psychosozialen Notlage keinen anderen Ausweg als den Tod sehen, sicher nicht zu. Das sind zwei Kategorien, die nichts miteinander zu tun haben. Deswegen sollten wir sie auch nicht vermischen.
Suizid ist nicht strafbar?
Nein, Suizide und Suizidversuche sind zum Glück und meines Erachtens selbstverständlich nicht strafbar. Das wäre paradox, sie sind ja bereits Ausdruck höchster Not und eingeschränkter Wahlmöglichkeiten. Wenn ich die Frage etwas erweitert beantworten darf, gibt es ja auch noch die Diskussion um die Rechtmäßigkeit eines Suizides gegenüber Gott. Die christlichen Kirchen haben ihre Einstellung in den letzten Jahren verändert und erkennen an, dass die Motive eines suizidalen Menschen höchst individuell und von außen nicht einsehbar sind und deswegen moralisch nicht bewertet, vor allem nicht verurteilt werden sollen. Ich halte das für eine gute Entwicklung, weil es für religiöse Menschen damit einfacher wird, sich bei Vorliegen von Suizidgedanken zu äußern und Hilfe zu holen. Also auch ein Beitrag zur Suizidprävention.
Ein Suizid ist etwas zutiefst persönliches, egoistisches möglicherweise sogar – trotzdem sind immer andere Menschen betroffen. Ist das das Problem?
Das ist eines der Kernprobleme von Suizidalität: Es gibt immer mehrere Opfer. Eltern, Kinder, Partner und Freunde, aber auch Kollegen und professionelle Helfer tragen oft ein Leben lang am Suizid eines Menschen.
Trauern Menschen, die einen Angehörigen beispielsweise bei einem Unfall verloren haben, anders als die, deren Angehörige sich das Leben nehmen? Was macht ein Suizid mit ihnen?
„Trauer nach Suizid – (k)eine Trauer wie jede andere“ war Thema eines der Vorträge, die wir im Rahmen unserer Aktionsreihe zur Suizidprävention des Bündnisses gegen Depression veranstaltet haben. Das trifft es ziemlich gut. Während bei anderen Todesarten das bestimmende Gefühl die Trauer ist, mischen sich nach Suizid ganz viele andere Gefühle dazwischen. Die Frage der Schuld ereilt Angehörige oder auch professionelle Helfer oft ganz früh nach dem Todesfall. Wer hat „Schuld“ am Suizid? Hätte ich etwas anders machen müssen? Was wäre, wenn ich besser aufgepasst, besser zugehört, mich anders verhalten hätte? Es erfordert oft lange Gespräche, um dieses Schuldthema zu relativieren. Aber auch die Wut, die bei anderen Todesursachen eher untypisch ist: Wie konnte er mir das antun, mich alleine lassen? Dann kommt Scham und Stigma hinzu, Angst vor Ausgrenzung. Oder auch eigene Suizidalität.
Wo können sich Angehörige Hilfe holen?
Ich halte es für sehr wichtig, dass Angehörige, Partner und Freunde über das Thema mit Menschen sprechen und von Menschen unterstützt werden, die diese Situation kennen. Deutschlandweit gibt es dafür einige Angebote. Auf der Webseite www.hilfe-nach-suizid.de werden gute Informationen angeboten. Der Verein Angehörige um Suizid (AGUS, www.agus-selbsthilfe.de) bietet Online-Gesprächskreise oder Gesprächskreise in Bremen an. In der Aktionsreihe zur Suizidprävention des Bündnisses gegen Depression, die Sie als Kreiszeitung im Jahr 2018 mit begleitet haben, haben wir zusammen mit AGUS die Gründung einer Selbsthilfegruppe für Angehörige in Rotenburg initiiert und eine Zeit lang gefördert. Diese Initiative steht nun dank des Einsatzes einiger Betroffener auf eigenen Beinen und ist über www.suizid-row.de erreichbar. Ich bin sehr froh, dass Angehörige in Rotenburg so ein Angebot haben. Darüber hinaus bestehen die üblichen Hilfsmöglichkeiten über die Telefonseelsorge, die niederschwelligen Kontaktangebote der psychosozialen Vereine, die Lebensberatungsstellen der Kirchen oder Gemeinden, die Psychotherapeuten oder die niedergelassenen Ärzte.
Wie kann man handeln, wenn man im Freundeskreis oder in der Familie von Suizidgedanken erfährt?
Die erste Regel ist, nicht wegzuschauen. Das Thema ist unangenehm, weckt Ängste und Unsicherheiten, aber das sind Gefühle, die gesunde Menschen aushalten können. Also mit der Person in Kontakt treten und sprechen, konkret nachfragen. In der Suizidprävention können wir es uns nicht leisten, dieses Thema zum Tabu zu machen. Und wenn es sich bewahrheitet, dass jemand Suizidgedanken hat, sollte man diese Person darin unterstützen, Hilfe zu suchen. Dabei ist nicht jedes Mal Panik, Notarzt oder Polizei angesagt, sondern Gedanken können sich in ganz verschiedenen Entwicklungsstadien befinden, die ein differenziertes Eingreifen erfordern. Bei akutem Wunsch oder Drang nach Umsetzung müssen oft Rettungsdienst und Polizei eingeschaltet werden, manchmal sogar gegen den Willen des Betroffenen. In anderen Fällen, in denen Suizidgedanken unerwünscht und nicht so drängend sind, vom Betroffenen noch weggedrängt werden können, die Abwägung zwischen Leben und Tod zugunsten des Lebens ausfällt, besteht oft etwas mehr Zeit, einen Termin zu machen, wobei ich auch in diesen Fällen zu einer Abklärung innerhalb einer Woche rate, da sich der Zustand verändern kann. Auch dann sind Telefonseelsorge, niederschwellige Kontaktangebote, niedergelassene Ärzte oder Psychotherapeuten die erste Ansprechadresse.
Was ist nötig für eine bessere Präventionsarbeit?
„Aktiv werden und Hoffnung schaffen“. Besser als das Motto des diesjährigen Welttages zur Suizidprävention kann man es kaum ausdrücken. Wir wollen es nicht hinnehmen, das sich über 9 000 Menschen in Deutschland jedes Jahr aufgrund psychischer Erkrankungen oder in Krisen suizidieren. Wenn wir das Leid und die Qual der Betroffenen und ihrer Angehörigen ernst nehmen, müssen wir aktiv werden, um diese Zahlen weiter zu senken. Dafür braucht es unter anderem eine deutliche Verbesserung der Versorgung psychisch kranker Menschen und insbesondere auch kurzfristig erreichbare Hilfen für Menschen in Krisen.