Über die „Luftbrücke Kabul“ zurück in Rotenburg

Rotenburg – Das Leben schreibt immer wieder ganz besondere Geschichten. Drehbuchreife Geschichten, die sich niemand ausdenken kann, sondern die einfach passieren. Glück und Zufall spielen dabei oscarreife Nebenrollen. Und in diesem Fall übernimmt eine junge Frau aus Afghanistan die Hauptrolle. Wahida Safa ist 25 Jahre alt. Diesen Geburtstag feiert sie im September in einem Aufnahmelager in Fallingbostel, wo ihre Ausreise aus Kabul und damit ihre Flucht vor den Taliban nach zwei Wochen glücklich endet.
Nun ist sie wieder in Rotenburg – dort also, wo sie vor 15 Jahren erstmals das Interesse auch der Presse auf sich gezogen hatte. Als eines jener Kinder nämlich, die im Rahmen des sogenannten Freibettfonds bereits seit 2001 am Agaplesion Diakonieklinikum in Rotenburg behandelt werden. „Ich vermisse mein Land“, sagt die junge Frau, „und ich weiß, dass mein Land nicht mehr frei ist.“ Einen Platz für sie zum Leben gibt es dort nicht mehr. Sie ist nicht nur Atheistin, sondern sie ist zugleich eine Frau, die malt. Das widerspricht allem, was die Taliban den Frauen in Afghanistan abverlangen. Wahida Safa: „Freiheit ist das erste Menschenrecht, das es in Afghanistan nicht mehr gibt.“ Vor allem für die Frauen.
Wahida Safa sitzt zusammen mit Professor Michael Schulte und seiner Frau Annette im Wintergarten. Es gibt einen afghanischen Tee mit viel Milch und Walnusssplittern. Nur wenige Meter vom Tisch entfernt steht eine Staffelei. Der ehemalige Chefarzt der Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie sowie Initiator des Freibettfonds am Diako hat die Afghanin bei sich zu Hause aufgenommen.
Safas Name steht schon mit auf dem Klingelschild, und sie fühlt sich sichtlich wohl. „Sie darf so lange bei uns bleiben, wie sie möchte“, sagt Schulte. Er, der einst den Freibettfonds am Diakonieklinikum implantiert und auch Wahida Safa 2006 mit behandelt hat und deren Geschichte ihn immer wieder beschäftigte. Es ist ein Wiedersehen nach 15 Jahren, als er sie in Fallingbostel abholt. Damit endet der wesentliche Teil einer Geschichte, die mal fassungslos macht, mal beeindruckt, weil die Hauptfigur nicht nur einen faszinierenden Willen und eine große Portion Mut, sondern auch eine Standhaftigkeit ausstrahlt, die in dieser Form nur wenige Menschen ihres Alters präsentieren.

Rückblick: Wahida Safa wird 1996 in Jawzjan in Afghanistan, etwa 80 Kilometer nordwestlich von Masar-e Sharif geboren. Ihre Eltern Mahboba und Neematallah Qurishy unterrichten an der Dorfschule. Als Tochter des Lehrers sitzt sie als einziges Mädchen in einer Jungen-Grundschulklasse. Nach drei Jahren wechselt sie an eine Schule für Mädchen. Sie ist inzwischen zehn Jahre alt. Und da wird die Organisation Friedensdorf International auf sie aufmerksam.
„Wegen ausgedehnter, chronischer Infektionen an mehreren Zehen beider Füße gelangte sie über die Hilfsorganisation in das Diakonieklinikum Rotenburg“, erzählt Michael Schulte. Die Diagnose: Lepra. Durch operative und medikamentöse Behandlungen gelang es den Ärzten, die drohende Amputation beider Füße zu verhindern. Schulte: „Wahida verließ mit abgeheilten Wunden und uneingeschränkt gehfähig nach fast einem Jahr das Krankenhaus – und kehrte in ihre Heimat zurück.“
Sechs Jahre später nimmt Dr. Gerhard Stauch Kontakt mit Michael Schulte auf. Der frühere ärztliche Leiter der Pathologie in Aurich hat mittlerweile in Masar-e Sharif ein kleines pathologisches Institut aufgebaut und war von afghanischen Kollegen wegen Safa um Rat gefragt worden. Sie hatte ihm gegenüber die Behandlung in Rotenburg erwähnt, schildert Schulte. Aber: „Die umgehende Übermittlung der Behandlungsdaten mit der damals gestellten Diagnose konnte eine Amputation des linken Unterschenkels leider nicht verhindern“, berichtet der frühere Rotenburger Chefarzt die damaligen Ereignisse.
Stauch besucht das Mädchen regelmäßig im Krankenhaus, und zum Abschied überreicht es ihm eine kleine Bleistiftzeichnung. Stauch stellt Safa bei einem weiteren Besuch Malutensilien zur Verfügung – und es entsteht eine Reihe von Bildern, so Schulte, die 2015 in Rotenburg ausgestellt werden. Aus dem Erlös dieser Ausstellung kann schließlich Wahidas Ausbildung an einer Kunsthochschule finanziert werden. 2016 macht sie sich allein auf den Weg nach Kabul. Sie arbeitet dort und nimmt das Studium auf. Zwei Jahre zuvor hat sie ihr Abitur gemacht. Im Sommer dieses Jahres dann endet das alles. Die Taliban rücken weiter vor, nehmen Kabul ein. Die Kunsthochschule wird geschlossen, Wahida Safa darf nicht mehr malen. Zurück in ihr Heimatdorf zu gehen, ist nahezu unmöglich, auch dort wäre ihre Zukunft ungewiss. Inzwischen hat man ihr auch den rechten Unterschenkel amputiert, die prothetische Versorgung ist unzureichend. Safa ist fast nur noch im Rollstuhl mobilisiert.

In dieser Situation im August dieses Jahres gelingt es der beidseitig unterschenkelamputierten jungen Frau, in einem defekten Rollstuhl und mithilfe des amerikanischen Militärs das Land zu verlassen. Und das unter dramatischen Umständen. Sie ist in Hörweite, als es zu einem Terroranschlag mit zahlreichen Opfern am Flughafen kommt. Dr. Annika Schmeding schildert das alles in einem Bericht, der später auch Michael Schulte erreicht. Schmeding ist Kulturanthropologin an der Harvard Universität in Boston. „Nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul habe ich mich zusammen mit einem Berliner Kollektiv von Journalistinnen und Dokumentarfilmern verbündet“, schreibt sie. Ein Bündnis, das als „Luftbrücke Kabul“ bekannt geworden ist. Der Kontakt sei durch die Dokumentarfilmerin Theresa Breuer zustande gekommen, die sie privat aus Kabul kenne.
Die Ereignisse, die sie schildert, habe sie als Kontaktperson von 43 Personen miterlebt, die sie auf die Liste fürs Auswärtige Amt und für die Evakuierung gesetzt habe. Kontaktpersonen seien die Knotenpunkte der Kommunikation zwischen der Kernorganisation in Berlin und den Kontakten vor Ort in Kabul gewesen. Theresa Breuer sei nach Kabul eingeflogen und habe im Flughafen organisiert. Ein weiterer Freund, Jordan Bryon, habe die Organisation außerhalb des Flughafens in der Stadt Kabul übernommen.
Am 26. August trommelt man alle Kontakte zusammen, die vom Auswärtigen Amt für die Ausreise aus Afghanistan bestätigt worden sind, um sich an den von „Luftbrücke Kabul“ gemieteten Bussen zu treffen. 239 Personen, unter denen sich auch Wahida Safa befindet, treffen sich an einer Stelle in der Nähe des Flughafens, schildert Schmeding. Ihr Freund Sami Nabizada, der auch selbst mit seiner Familie auf der Liste stand, hilft Wahida Safa mit dem Transport zu den Bussen.

Die beiden kennen sich von einem Projekt. Der Filmemacher drehte in Kabul einen Film über das Malen von Safa. Jetzt war sie mittendrin in diesem Kreis von Journalisten und Filmemachern. Ein großes Glück für sie. Tage und Nächte verbringt sie mit diesen Leuten in einem Bus. Quälend lange müssen alle warten, bis sie endlich durchkommen und einen Flieger erreichen, der sie rausbringt.
Michael Schulte ist inzwischen informiert über das alles, aber ein Kontakt zu ihr besteht nicht. Ihre Odyssee über Riad/Saudi-Arabien, Rota/Spanien und Ramstein sowie Hannover und schließlich Fallingbostel nimmt viel Zeit in Anspruch. Mitnehmen darf Wahida Safa nur die Kleidung, die sie trägt, ihren Pass und ihr Handy.
In Rotenburg angekommen, verbringt Safa zwei Wochen im Diakonieklinikum. Durch eine mehr als großzügige Unterstützung beziehungsweise Spende des Sanitätshauses Rohde und des Herstellers „Ottobock“ bekommt Safa zwei neue Prothesen. Beim Anpassen ist auch ein Auszubildender der Firma Rohde anwesend: Nyamatullah Arabzada ist ist 18 Jahre jung und selbst Geflüchteter, kommt ebenfalls aus Afghanistan. Er hilft beim Übersetzen – das macht alles einfacher. Man kümmert sich auch um die Erstausstattung Safas, und der Landkreis schafft es, ihr einen besonderen Aufenthaltsstatus („aus humanitären Gründen“) zu verschaffen. Die Rotenburger Rotarier engagieren sich ebenfalls finanziell, um sie zu unterstützen. Schultes Frau Annette: „Jetzt haben wir drei Kinder.“

Gerd Hachmöller, Leiter der Stabsstelle Kreisentwicklung beim Landkreis: „Wahida wird langfristig bleiben können.“ Das freut ihn, denn er erlebe Wahida Safa als fröhlich, aufgeschlossen, neugierig und lebenshungrig.
Safa spricht beim afghanischen Tee aber auch über Heimweh. „Manchmal habe ich das, wenn es um meine Familie geht.“ Doch an diesem Tag geht es ihr „super“. Zwei ihrer fünf Brüder hatten sich auf den Weg in die Türkei gemacht. Sie wollen dort arbeiten, um die Familie finanziell zu versorgen. Dann die Nachricht, die Safa bestürzt: „Sie sind gekidnappt worden.“ Es geht um Lösegeld, das die Familie nicht zahlen kann. Nun, zwei Wochen später, die Nachricht: Sie sind wieder frei. Und Wahida Safa ist ebenfalls sicher. Schulte: „Sie ist sehr belesen, sehr intelligent. Sie möchte hier ihre Ausbildung fortsetzen, im künstlerischen Bereich arbeiten.“ Ausflüge in die Natur und das Malen – das seien ihre „Ventile“. Sie ist regelmäßig in der Bildnerischen Werkstatt der Rotenburger Werke, lernt bei der VHS weiter Deutsch und hält via Handy Kontakt mit der Heimat. Jetzt geht’s ihr gut.