Überforderung am Amtsgericht Rotenburg

Zu viel Arbeit am Amtsgericht Rotenburg für die Richter? Eine Richterin steht selbst vor Gericht, weil sie das Recht gebeugt haben soll.
Stade/Rotenburg – Das Landgericht Stade hat sich am Mittwoch eingehend mit den Zuständen am Rotenburger Amtsgericht beschäftigt, um zu klären, ob eine Rotenburger Richterin zwischen Mai 2016 und Dezember 2017 vorsätzlich falsches Recht angewendet hat.
Ihr wird vorgeworfen, in 15 Fällen eine Unterbringung in der Psychiatrie angeordnet zu haben, ohne die Betroffenen vorher anzuhören. In der Regel dient eine derartige Zwangseinweisung dem Selbstschutz von psychisch erkrankten Personen und wird von ihren rechtlichen Betreuern beantragt. Da es sich um einen gravierenden Eingriff in die persönlichen Freiheitsrechte handelt, ist neben einem ärztlichen Gutachten auch ein persönliches Gespräch zwischen Richter und Betroffenem zwingend vorgeschrieben.
Vorwürfe eingeräumt
Am ersten Prozesstag hatte die 54-Jährige die Vorwürfe bereits eingeräumt, jedoch den Vorsatz ihres Handelns abgestritten – ein elementarer Bestandteil des Straftatbestands der Rechtsbeugung. Sie erklärt ihr Verhalten durch eine erhebliche Überlastung.
Ihre am Mittwoch als Zeuginnen geladenen Kolleginnen bestätigten, dass sich im Büro der Angeklagten im Zeitraum der mutmaßlichen Taten die Akten türmten. „Das war für mich die schlimmste Zeit im Gericht“, berichtete eine 52-jährige Justizfachangestellte, die seit Jahrzehnten im Bereich des Betreuungsrechts arbeitet und 2018 wegen eines drohenden Burn-outs mehrere Wochen krankgeschrieben war. Die Zeugin bezeichnete die Angeklagte als „gewissenhafte Richterin“, die sich immer gut um die Mitarbeiter gekümmert habe.
Freiwillig weitere Aufgaben übernommen
Eine 35-jährige Justizsekretärin bestätigte diese Einschätzung. Die Angeklagte sei immer erreichbar gewesen und werde vom Kollegium sehr geschätzt.
Doch vielleicht wird ihr dieser Einsatz nun zum Verhängnis. So hatte sie während einer personellen Notlage trotz der Überlastung in ihrem eigenen Bereich auch noch die Aufgaben einer pensionierten Zivilrichterin übernommen – zum Unverständnis der Staatsanwaltschaft und nach Auffassung des Richters „freiwillig“. Der Anwalt der Angeklagten erklärt die Übernahme weiterer Bereiche mit Kollegialität, und die Angeklagte selber sah zu diesem Zeitpunkt keine andere Option: „Das Problem war da, und das Problem musste gelöst werden.“
Gibt es „Geisterakten“?
Von ihren Vorgesetzten seien ihr falsche Versprechungen bezüglich einer Nachfolge gemacht worden. Eigentlich sollte sie die unbesetzte Stelle nur vertretungsweise übernehmen, „doch aus Wochen wurden Monate“, so die Angeklagte. Diese und weitere Missstände seien dem damaligen Direktor bekannt gewesen und mussten von den Mitarbeitern aufgefangen werden. So auch das fehlerhafte EDV-System, das zu sogenannten Geisterakten führte – ein Begriff, der anscheinend eigens am Rotenburger Amtsgericht erfunden wurde. Damit sind Akten gemeint, die in keiner Statistik auftauchen und so zu erheblicher Zusatzbelastung führen. Laut einer Zeugin sei das Problem bis heute nicht gelöst.
Das Amtsgericht Rotenburg teilte jedoch auf Nachfrage mit, dass alle Verfahren vollständig erfasst würden, und möchte sich nicht weiter zu den „Geisterakten“ äußern. Auch die Vorwürfe der strukturellen Überlastung will das Gericht „angesichts des laufenden Verfahrens“ nicht kommentieren. Der Prozess wird am 24. Januar fortgesetzt.