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Vom Balkon gegenüber

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Von: Ulla Heyne

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Die Abstände sind groß auf dem Pferdemarkt – auch zum Künstler im Rathaus.
Die Abstände sind groß auf dem Pferdemarkt – auch zum Künstler im Rathaus. © heyne

Rotenburg – Über den Rathausplatz gespannte bunte Sonnenschirme, die in der Abendsonne leuchten, in den Ecken Lautsprecher und perlige Klavierklänge in der Luft – bereits zum zweiten Mal innerhalb eines guten Jahres wurde der Rotenburger Pferdemarkt zur Konzertkulisse. Die Kontraste zum „Laut und draußen“-Festival, das im vergangenen August an selbiger Stelle gerockt wurde, hätten indes kaum größer sein können: Statt einer Reihe von Bands ein Solokünstler, Klassik statt Rock und keine ausgelassen tanzenden Besucher mit Bier und Bratwurst, sondern zumeist zu zweit zusammen sitzende Gäste auf dem vom Bauhof bestuhlten und mit rot-weißem Flatterband abgezäunten Platz – vieles war eben nicht möglich in diesen Zeiten.

Das, was Uwe Radtke, Tobias Harms und Benjamin Roolfs vom Infobüro auf Initiative des musikalischen Rotenburger Urgesteins Peter Paulitsch dennoch mit nur drei Wochen Vorlauf geplant und mit Hilfe von Ordnungsamt und Bauhof auf die Beine gestellt hatten, wurde von der kulturinteressierten Bevölkerung dankbar angenommen. Innerhalb einer Woche waren die 150 kostenlosen Eintrittskarten für das Balkonkonzert des Pianisten, Dirigenten und Komponisten vergriffen. „Zum Glück sind die meisten auch tatsächlich gekommen“, frohlockte Bürgermeister Andreas Weber. Viel zu tun hatten die Mitarbeiter des Bauhofs, die an den beiden Einlässen und als „Security“ auf die Einhaltung der Abstände und das Tragen der Masken achten sollten, nicht. „Fast etwas übertrieben, wenn man sieht, was sonst hier so auf dem Wochenmarkt los ist“, fand Besucherin Carola Kleinsteinberg. Die passionierte Konzertgängerin, die sich eigentlich auf das Beethovenjahr mit den „Rotenburger Konzerten“ gefreut hatte: „Eine schöne Idee und stimmige Atmosphäre – nur schade, dass man den Pianisten kaum sehen kann“. Der war in der Tat zwischen den Streben des Balkons im Amtszimmer der Ersten Stadträtin Bernadette Nadermann im ersten Stock verborgen, wo er aber souverän wie kraftvoll in die Tasten griff.

Auch für ihn ist das „Balkonkonzert“ ein Novum. Der ehemalige Leiter der Kreismusikschule hat zwar schon das Landesjugendorchester Hamburg Open Air „auf der grünen Wiese“ dirigiert – „aber das Publikum nicht zu sehen, das ist noch einmal etwas anderes.“ So konnte er die relaxte Atmosphäre auf dem Pferdemarkt nur erahnen: Spielende Kinder, die sich auf dem Skateboard oder den Bronzepferden vergnügten, die Jugendlichen, die provozierend „Yallah“ oder „Holt die Polizei“ in die Darbietung riefen und ob der Missachtung durch Zuhörer und Ordnungskräfte irgendwann die Segel strichen – das alles strahlte Gelassenheit aus. „Eine tolle Sache“, befand auch Zaungast Rüdiger Zobel. In Westervesede aufgewachsen, hatte sich der Großhansdorfer, für einige Tage im Rahmen eines Seminars in der alten Heimat zu Gast, ein Jugendherbergsfahrrad geliehen und war zufällig hier hängen geblieben: „Kultur ist Nahrung für die Seele“, lobte er, und bedauerte, dem Vortrag von Paulitsch nicht länger beiwohnen zu können. Der setzte mit Stücken von Chopin, Mozart, natürlich Beethoven, Händel und Schubert auf Bekanntes aus dem Standardrepertoire fortgeschrittener Klassik-Eleven – bewusst, „ich wollte den Zuhörern keine komplizierte Kost zumuten.“

Ein wenig musikalisches Neuland gab es zwischen „Für Elise“ und „Mondscheinsonate“ dann aber doch zu entdecken: Mit dem Klavier-Arrangement eines kurdischen Volksliedes, das Paulitsch bei einer befreundeten kurdischen Familie kennenlernte, wollte er ein Zeichen setzen. Der Arrangeur, der Komponist Ibrahim Shexo, war eigens aus Osnabrück angereist, um sich diese Uraufführung nicht entgehen zu lassen. „Bisher gab es das Werk nur als CD-Einspielung“, freute er sich, und fügte schmunzelnd hinzu: „Er hat zu 90 Prozent so interpretiert, wie ich es mir gedacht hatte.“ Bürgermeister Andreas Weber, der in puncto perfektem Timing an diesem lauen Spätsommerabend seinem musikalischen Gast wohl in nichts nachsteht, zeigte sich mehr als zufrieden: „Länger hätten wir auch nicht warten dürfen, allmählich wird es kalt.“ Ein Nachfolgekonzert dieses gelungenen Testballons will er trotz des enormen personellen Aufwands nicht ausschließen, „allerdings wird es draußen allmählich schwierig, und woanders geht es wegen der Auflagen nicht.“

Nach eineinviertel Stunden guter Unterhaltung inklusive Zugaben leerte sich der Platz. Auf dem Weg wurden die Sparschweine für das Hospiz gefüllt, das vom Diakonissen-Mutterhaus gebaut wird – der Künstler begnügt sich mit einer Aufwandsentschädigung. Fast 1 000 Euro sind für das Hospiz zusammengekommen, heißt es am Tag danach. Auch dies ein Erfolg für den Testballon „Balkonkonzert“. Der große musikalische Wurf – mitnichten. Aber ein gutes und wichtiges Bekenntnis zu Kultur in der Wümmestadt – und ein verdammt netter, lauschiger Abend noch dazu.

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