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Über Anmut und Disziplin: Ballettlehrerin Inés Güttel im Interview

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Von: Ulla Heyne

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Inés Güttel an der Stange – die spielt eine zentrale Rolle beim Ballettunterricht, auch wenn sie nicht zum Festhalten da ist.
Inés Güttel an der Stange – die spielt eine zentrale Rolle beim Ballettunterricht, auch wenn sie nicht zum Festhalten da ist. © Heyne

Rotenburg – Seit 30 Jahren besteht die Ballettschule Inés Güttel, mehrere Tausend Elevinnen haben hier ihre ersten Tanzschritte gemacht. Anlässlich der Gala am kommenden Wochenende haben wir uns mit der Mitbegründerin über Ballett in Ost und West, den Nimbus als Hobby für „Töchter aus gutem Hause“ und Tiktok-Tänze unterhalten.

Frau Güttel, wissen Sie eigentlich noch, wie viele Tanzschülerinnen Sie in Ihrem Studio in den drei Jahrzehnten unterrichtet haben?

Nicht genau, aber um die 3 000 werden es sein, vielleicht auch mehr. Viele habe ich die gesamte Kindheit und Jugend begleitet. Gerade wurde ich zur Hochzeit einer meiner ehemaligen Elevinnen eingeladen. Sie meinte: „Du gehörst doch zu meinem Leben dazu.“ Einige tanzen hier zwei, drei Mal die Woche, machen ihre Hausaufgaben hier, bevor die Tanzstunde losgeht, andere absolvieren hier ein freiwilliges soziales Jahr, bevor sie in die Welt hinausziehen. Andere entscheiden sich, wenn sie wiederkommen, auch wegen des Ballettstudios wieder für Rotenburg – das Familiäre hier, das ist ja das Schöne.

Das klingt so, als ob Sie die Entscheidung, die eigene Bühnenkarriere zugunsten der Lehre aufzugeben, nicht bereut haben.

Absolut nicht. Bei meinem Engagement am Landestheater Neustrelitz, wo ich auch viel mit Schauspiel zu tun hatte, kam der Wunsch auf, zunehmend etwas Eigenes zu kreieren und mehr in Richtung Choreografie zu gehen, aber im Genre zu bleiben. Um das auf sichere Füße zu stellen, habe ich später Ballettpädagogik und Choreografie studiert.

Und Rotenburg – war das eine bewusste Entscheidung oder eher Zufall?

Ein bisschen von beidem. Als Nordlicht wusste ich nach einigen Jahren in Köln, dass ich wieder in den hohen Norden wollte, und habe eine Annonce in einem Fachblatt aufgegeben. In Rotenburg wollte ich eigentlich nur kurz bleiben. Als ich mit 27 herkam, ähnlich wie im Juni 1989 in den Westen, hatte ich wieder nur eine kleine Reisetasche dabei. Nun lebe ich schon über 30 Jahre hier. Aber es war genau wie bei der Flucht in den Westen: „Wer nichts wagt, der nichts gewinnt!“

Damals noch mehr als heute galt Ballett ja als ein Hobby, das vor allem gewissen Gesellschaftsschichten zugeschrieben wurde, den „Töchtern aus gutem Hause“.

Das hat mich damals auch erstaunt, das kannte ich ja ganz anders. Bei uns in der DDR hatte Ballett eine ganz andere Lobby und wurde vom Staat enorm gefördert – jeder konnte tanzen, und das gratis.

... während Ballett im Westen von jeher der Nimbus des Elitären anhaftete. Ist das heute auch noch so?

Wir haben hier Schülerinnen aus allen gesellschaftlichen Schichten – das ist mein Anliegen, so bin ich aufgestellt. Jeder ist willkommen.

Auch Jungs?

Klar! Es gibt sogar eine Gruppe ausschließlich mit Jungen, nämlich Breakdance.

... was ja vom klassischen Ballett recht weit entfernt ist. Neben Ballett bieten Sie auch Hiphop, Jazzdance, Modern und Street Dance und Pilates an. Müssen sich Ballettstudios heute breiter aufstellen, um über die Runden zu kommen?

Ja, das ist wichtig. Heute ist das allgemeine Freizeitangebot viel größer. Anfänglich haben wir Kinder erst ab fünf Jahren angenommen, dann wissen die Kinder was sie tun; heute sind sie früher reif. Viele haben in diesem Alter schon die Ernsthaftigkeit für diese Kunstform, andere wollen nur Spaß. Allen gerecht zu werden, ist mein Job und für den Spagat, bei allem Spaß auch die Ernsthaftigkeit zu vermitteln, braucht es die Pädagogik. Man braucht eine gute Menschenkenntnis, um zu wissen: „Was kann ich ihnen abverlangen, damit sie ihr Potenzial entfalten? Die Entwicklung dann zu begleiten und die Kinder aufwachsen zu sehen, das ist schön.

Auf Ihrer Website weisen Sie in klaren Worten darauf hin, dass Sie auf Werte wie Ordnung, Höflichkeit, Pünktlichkeit und ein gepflegtes Erscheinungsbild Wert legen. Ist das heutigen Familien, bei denen oft eher die freie Entfaltung des Individuums und Kreativität im Vordergrund stehen, überhaupt zu vermitteln?

Wenn die Eltern mitziehen, ist es natürlich leichter – zum Beispiel bei Familien, in denen schon die zweite Generation bei mir tanzt und die wissen, was mir wichtig ist. Bei Familien ohne Tanzhintergrund muss man manchmal mehr reden, enger zusammenarbeiten. Oft tragen die Kinder meine Werte in die Familien: „Inés hat gesagt ...“ – da bin ich dann eine Instanz (lacht).

Und die Trainingsdisziplin: ist es heute noch gut vermittelbar, dass man sich quälen muss, um Erfolg zu haben?

Der Wunsch zu tanzen, muss schon von den Kindern und Jugendlichen selbst kommen. 70 bis 80 Prozent derer, welche bei uns tanzen, bleiben auch bei der Stange. Sicherlich hilft es, wenn es phasenweise mal zäh ist, was ja manchmal auch normal ist, wenn die Eltern uns unterstützen, dran zu bleiben. Eine Rolle spielt dabei aber auch, dass es immer mehr andere Angebote gibt, aber auch das „Chillen“, das kannten wir früher ja gar nicht. Wenn jemand gerade mit großer Begabung sich irgendwann vom Ballett abwendet, ist das natürlich sehr schade. Früher habe ich bei einem solchen Talent schon mal die Familie aufgesucht und um das Kind gekämpft. Das würde ich heute wohl nicht mehr tun. Man wird gelassener. Und Reisende soll man ja bekanntlich nicht aufhalten.

Abgesehen von der Körperbeherrschung, sind ehemalige Ballettschüler, die Tugenden wie Disziplin und Durchhaltevermögen verinnerlicht haben und Schmerz zu erdulden, als Erwachsene besser aufgestellt?

Das würde ich so nicht sagen, bei den meisten bleibt es ja ein Hobby. Wenn jemand dadurch seinen Beruf findet, wie Johanna Burfeind, die heute am Theater Ulm als Kostümbildnerin arbeitet, ist das natürlich toll. Diejenigen, die hier ihren Grundstein für eine professionelle Tanzkarriere gelegt haben, kann ich allerdings an einer Hand abzählen – leider. Die können dann aber auch international anknüpfen – die Ballettsprache ist international und den Begriff „Plié“ kennt jeder Tänzer auf der ganzen Welt.

Spielen für den Zulauf zum Ballettstudio auch Sendungen wie „Let‘s dance“ oder der Tiktok-Tanzboom eine Rolle?

Die modernen Tänze und Medien überlasse ich gern meinen Kollegen und Mitarbeiterinnen, ich selbst bin da eher „Old School“. Für Hiphop habe ich beispielsweise eine Trainerin, die ich als Dozentin an der Hochschule für Bildende Künste in Ottersberg unterrichtet habe. Sendungen wie „Let‘s dance“ gucken hier, glaube ich, nicht allzu viele – das Format ist auch nicht so ganz meins. Hier geht es hauptsächlich ja um Standardtanz. Wir hingegen vermitteln im Kindertanz und Ballettunterricht eher künstlerischen Tanz. Die Aura, das „nach außen Strahlen“, das muss von innen kommen und sollte nicht aufgesetzt wirken. Aber selbstverständlich wird in allen Tanzdisziplinen hart trainiert, wenn man etwas erreichen möchte. Und Tanzen an sich ist ja generell wunderbar, jedem das Seine. Ab und zu schaue ich dann doch mal „Let‘dance“ – auch ich lasse mich gerne mal inspirieren. Die Jury ist ja auch unterhaltsam und ein bisschen extrovertiert zu sein, kann nicht schaden.

Hat Ihnen das auch geholfen?

Bin ich extrovertiert? Zugegeben, ich habe schon in der Schule gern Theater gespielt, am besten beide Rollen: heute das Schneewittchen, morgen die strenge Schwiegermutter – lieb kann jeder (lacht).

Sind Sie eine strenge Lehrerin?

Früher war ich strenger. Bei Schülern, die ich besser kenne, rede ich schon mal Tacheles, aber die kennen mich auch und wissen das einzuschätzen. Bei anderen, die meine Art und meinen Humor nicht so kennen, muss man etwas vorsichtiger sein. Aber ich weiß, was ich will – und das ist auch gut so, denn wenn man nichts verlangt, bekommt man nur Mittelmaß.

Und damit geben Sie sich nicht zufrieden, wie Ihre Aufführungen zeigen oder auch die Brautmodenschau, die Sie aufwendig choreografieren und in Szene setzen. Können Sie Ihren eigenen Ansprüchen bei den Inszenierungen überhaupt gerecht werden?

Nicht immer. Da spielen ja auch noch viele andere Faktoren rein. Bei der Tanzgala zum 30. Bestehen am kommenden Wochenende ist es ein Wust an Genehmigungen, Auflagen und Organisation. Steffi Harbord, übrigens meine mir am längsten zur Verfügung stehende Lehrkraft, Ronja Killinger und ich haben etwa 200 Tänzer auf der Bühne, einen Stab von 30 ehrenamtlichen Eltern, die die Zwerge, Erdbeeren, Mäuse und alle anderen schminken und betreuen. Auch wenn ich manchmal nachts bis halb drei am Planen bin, weil einem einiges keiner abnehmen kann, muss man doch lernen loszulassen. Da bin ich noch mitten im Lernprozess. Nach fünfeinhalb Jahren – auch pandemiebedingt – ohne Aufführungen, war es aber ein großer Wunsch gerade vieler Abiturientinnen, die uns verlassen, noch einmal eine große Aufführung zu machen.

An welche Ihrer Projekte der letzten 30 Jahre erinnern Sie sich besonders gern?

Herausragend waren die großen Produktionen – früher zum Beispiel „Der Zauberer von Oz“, das Requiem 2015 mit Karl-Heinz Voßmeier, die Märchen – „Peter und der Wolf“ 2017, „Aschenbrödel“ 2012 oder „Die Schneekönigin“, ein Schulprojekt. Die Bildnerischen Werkstätten haben die Kulisse des Smaragdpalasts gebaut, der wurde mit dem Lkw rüber gekarrt. Das wäre heute gar nicht mehr denkbar – die Bereitschaft zu helfen ist heute nicht mehr so ausgeprägt und die bürokratischen Hürden werden immer größer.

Was denken Sie: Wird das Ballettstudio Güttel auch noch seinen 40. oder 50. Geburtstag feiern?

Wer weiß? Ich mache so lange weiter, wie es mir Spaß macht und gut angenommen wird. Die Schüler sollen gerne zu mir kommen! Über das tolle Feedback nach so vielen Jahren freue ich mich besonders, das ist meine Motivation.

Große Tanz-Gala

Die Tanz-Gala „Schritt für Schritt 2023“ geht am Samstag kommender Woche, 18. März, um 17 Uhr und Sonntag, 19. März, um 15 Uhr über die Bühne der Aula im Rotenburger Ratsgymnasium an der Gerberstraße. Restkarten für diese beiden Veranstaltungen sind noch in der Tourist-Information Rotenburg am Rathaus erhältlich. 

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