Psychiatrie im Wandel: Viele Ideen, wenig Geld

Peter Wagner kennt das psychiatrische Versorgungssystem gut. Viele Angebote haben ihm sehr geholfen, dennoch hat er Verbesserungsvorschläge. Auch der Psychiater Prof. Marc Ziegenbein sieht bei einigen Punkten Handlungsbedarf.
Rotenburg – Schon mehrfach stand die Polizei bei Peter Wagner (Name von der Redaktion geändert) vor der Tür. Nachbarn hatten die Beamten alarmiert, weil sie Wagners Suizid fürchteten. Die Polizisten nahmen ihn mehrmals mit zum Sozialpsychiatrischen Dienst. Sie seien zwar immer nett gewesen, „aber es ist trotzdem grauenvoll, wie ein Schwerverbrecher weggefahren zu werden“, erinnert sich der 65-Jährige.
Zwangseingewiesen wurde er zwar letztlich nie. Trotzdem kennt er sich mit psychiatrischen Kliniken gut aus und hat den Reformprozess der Disziplin hautnah miterlebt. Denn seit 2007 hat Wagner schon mehrere freiwillige Aufenthalte in stationären Einrichtungen hinter sich. Ein Burnout und eine Trennung haben den Rotenburger aus seinem alten Leben gerissen. Diagnose: Bipolare Störung.
Medikamente: „So viel wie nötig, so wenig wie möglich“
Daraufhin wurden ihm entsprechende Medikamente verabreicht, „Hammerdinger“, wie er sagt. Auch aufgrund der starken Nebenwirkungen, etwa eine stark vernebelte Gefühlswahrnehmung, habe er sich letztes Jahr in Soltau eine zweite Meinung eingeholt. Dort sei ihm statt der Bipolaren Störung eine einfache Depression ohne manische Anteile attestiert worden.
Mit besseren Räumlichkeiten und mehr Zeit könnte der Einsatz von Medikamenten reduziert und oft sogar ganz vermieden werden
„Wenn man einmal den Stempel hat, zieht sich das durch. Man bekommt keine neue Diagnose. Daher habe ich fast 16 Jahre falsche Medikamente bekommen“, ist Wagner überzeugt. Er ist aber nicht generell gegen eine medikamentöse Behandlung: „Im Akutfall war es sehr gut, dass ich stabilisierende Medikamente bekommen habe.“ Er hätte sich jedoch eine zurückhaltendere Medikation gewünscht.
Eine Einschätzung, die der Professor Marc Ziegenbein grundsätzlich teilt. Der Psychiater ist Vorsitzender des niedersächsischen Psychiatrieausschusses – ein parlamentarisches Kontrollgremium, das sich für die Belange von psychisch kranken Menschen einsetzt. Ziegenbeins Haltung zu Medikation: „So viel wie nötig und so wenig wie möglich. Mit besseren Räumlichkeiten und mehr Zeit könnte der Einsatz von Medikamenten reduziert und oft sogar ganz vermieden werden, das zeigen auch Studien.“ Zu wenig Personal und bauliche Mängel: Das sind die Hauptkritikpunkte an der psychiatrischen Versorgung in Niedersachsen, die im aktuellen Bericht des Ausschusses festgehalten sind.
Behandlung psychischer Krankheiten braucht Zeit und Verständnis
Wagner kennt diese Probleme aus eigener Erfahrung. Die Pflegekräfte und Ärzte, unter anderem im Rotenburger Diakonieklinikum, habe er als sehr bemüht wahrgenommen: „Sie haben ihr Möglichstes getan.“ Die Zeitknappheit gerade bei den Ärzten habe er jedoch deutlich zu spüren bekommen, Therapiesitzungen seien häufig ausgefallen. Positiv hebt er hingegen den Sozialdienst an der Rotenburger Psychiatrie hervor. Immer mehr Einrichtungen setzen bei der Betreuung ihrer Patienten auf Sozialarbeiter, die einen ganzheitlichen Blick auf die Menschen haben und diese nicht nur auf ihre medizinische Diagnose reduzieren.
Ziegenbein betont, dass eine psychische Erkrankung nicht so „handwerklich“ behandelt werden könne, wie etwa ein chirurgischer Eingriff am Knie. Erfolge könnten nur durch die Mitwirkung der Patienten erzielt werden und dafür brauche es Vertrauen und Verständnis. Neben dem Einsatz von Sozialpädagogen werden daher auch zunehmend sogenannte Genesungsbegleiter in die Behandlungskonzepte integriert. Die Begleiter haben selber bereits psychische Krisen durchlebt und unterstützen die Betroffenen mit ihrem Erfahrungswissen.
Denn schon bei Depressionen falle es selbst erfahrenen Psychiatern wie Marc Ziegenbein schwer, die Wahrnehmung der Betroffenen nachzuempfinden. Fast unmöglich werde es bei psychotischen Erkrankungen. Insbesondere wenn ein psychotischer Patient gegen seinen Willen in einer Klinik untergebracht ist, könne genau das eintreten, was in seiner Wahnwelt bereits zuvor existierte. In diesen Fällen sei der Kontakt zu Genesungsbegleitern laut Ziegenbein besonders hilfreich.
Dezentralisierung und alternative Angebote
Die heilsame Wirkung eines Austausches mit ehemals oder auch akut Betroffenen kennt auch Wagner gut. Nicht nur von seiner Selbsthilfegruppe, sondern auch von einem Klinikaufenthalt in Schleswig-Holstein. Dort hat er in einer Wohngruppe mit eigener Küche und gemeinsamen Wohnzimmer gelebt. „Die Atmosphäre war top. Es war wie ein Familienverband, der Stabilität vermittelt hat“, erzählt der ehemalige Jugendpfleger.
Es ist wichtig, dass es Hilfsmöglichkeiten wie die Psychiatrie gibt.
Weg vom alten Kliniksystem, hin zu WGs und ambulanter psychiatrischer Pflege – der Trend geht zu offeneren Konzepten, die sich mittlerweile vielfach bewährt haben, aber eben auch deutlich mehr kosten, als Mehrbettzimmer und Schlaftabletten. Um dezentrale Versorgungsangebote weiter ausbauen zu können, brauche es laut Ziegenbein grundlegende politische Entscheidungen, um die Ressourcenknappheit im Gesundheitssystem insgesamt zu bekämpfen.
Nach Wagners Erfahrungen müssten zusätzlich auch niedrigschwellige Angebote deutlich ausgebaut werden. Ein Nachtcafé oder sogenannte Weglaufhäuser könnten in einer akuten Krise oft schon ausreichen, um den Gang in die Notaufnahme zu vermeiden. Dafür sei ein flächendeckendes und vielfältiges Angebot auch außerhalb von Krankenhäusern nötig. Dennoch macht er deutlich: „Es ist wichtig, dass es Hilfsmöglichkeiten wie die Psychiatrie gibt.“