Carsten Konrad: Depression ist tatsächlich eine Volkskrankheit, die Häufigkeit ist sehr hoch. Die Wahrscheinlichkeit, im Laufe seines Lebens an einer Depression zu erkranken, ist bei Frauen doppelt so hoch als bei Männern. Bei Frauen liegt der Anteil bei ungefähr 18 Prozent, bei Männern um die neun. Das heißt, das Risiko, unter der Krankheit zeitweise mal in seinem Leben zu leiden, ist sehr, sehr hoch. Allerdings geht man nicht davon aus, dass die Erkrankung an sich zunimmt. Stattdessen steigt die Erkennungsrate zunehmend an, und durch die öffentliche Aufklärung über diese Erkrankung wird sicher auch die Scham, sich damit zu outen, immer geringer. Das dürfte erklären, warum immer mehr Fälle gezählt werden, in denen sich Menschen in Behandlung begeben.
Warum sind Frauen häufiger betroffen als Männer?
Konrad: Da gibt es mehrere Hypothesen. Die einen sind biologischer Art, die auf bestimmte biologische Geschlechtsunterschiede abheben – ob das nun X-chromosomale Merkmale sind oder mit hormonellen Unterschieden zu tun hat. Dann gibt es durchaus auch psychosoziale Hypothesen, die mit der Rolle der Frau in der Gesellschaft zu tun haben, beispielsweise bestimmte Belastungen, denen Frauen deutlich mehr ausgesetzt sind als Männer. Letztendlich ist das aber alles noch nicht wirklich geklärt.
Sie sprechen von einer höheren Erkennungsrate. Gehen Menschen mit psychischen Störungen im Umkehrschluss also häufiger zum Arzt?
Konrad: Das ist so, ja. Wenn man aber hochrechnet, wie viele Menschen eine Depression in epidemiologischen Studien haben und wie viele dann tatsächlich beim Haus- oder Facharzt ankommen, gibt es doch noch eine enorme Lücke, in der offensichtlich behandlungsbedürftige Personen verschwinden – jene also, die sich eben nicht in Behandlung begeben. Das macht vermutlich weit mehr als 50 Prozent der Betroffenen aus.
Ein frohes Gemüt schützt vor Depressionen. Ohnehin, so ein weitverbreitetes Bild, würden nur sensible Menschen darunter leiden. Stimmt das?
Konrad: Es stimmt schon, dass es bestimmte Prädispositionen gibt, zum Beispiel bestimmte Persönlichkeitseigenschaften, bei denen Menschen eher dazu neigen, depressiv zu werden. Zum Teil ist die Aussage bezüglich des frohen Gemüts also richtig, wenn man eine positive Strategie hat, um mit Lebensereignissen fertig zu werden. Solche gut zu verarbeiten, kann tatsächlich schützen.
Äußert sich die Krankheit eigentlich nur psychisch?
Konrad: Nein, eine Depression bringt tatsächlich auch viele körperliche Symptome mit sich. Ein sehr frühes, was viele Menschen an sich bemerken, sind zum Beispiel Schlafstörungen mit einem ganz charakteristischen frühen Erwachen nachts um 2, 3 Uhr. Wo man plötzlich hellwach ist und nicht mehr einschlafen kann. Auch die Appetitstörung gehört dazu. Darüber hinaus kann sich die Depression in sehr vielen körperlichen Beschwerden äußern. Wir sehen sehr viele Patienten, die an Kopfschmerzen leiden oder an Schmerzen in übrigen Körperregionen. Das kann zum Beispiel auch ein Kribbeln oder Ziehen sein.
Was können Auslöser einer Depression sein?
Konrad: Als Auslöser betrachtet man heutzutage die Summe der Lebensereignisse. Jeder hat ja eine individuelle Schwelle, ab der er depressiv werden kann. Einige haben – sozusagen von Natur gegeben – eine hohe Schwelle, andere eine niedrige. Mitbeeinflusst wird dieser Grad sicher auch noch durch frühkindliche Ereignisse, Dinge, die man da so mitbekommen hat. Dann kommen jene Ereignisse dazu, die sich im Laufe des Lebens aufsummieren. Das können Schicksalsschläge sein, das können manchmal aber auch stresshafte, positive Ereignisse sein.
Ein schönes Ereignis kann also auch zu einer Depression führen?
Konrad: Aber sicher doch. Auch so etwas kann Stress verursachen. Denken Sie nur an die Organisation einer Hochzeit. In der Literatur wird sie häufig als positives Ereignis genannt, das gleichzeitig mit einer tief greifenden Lebensumstellung verbunden ist und daher zur Summe aller Lebensereignisse beiträgt. Aber auch eine Beförderung, an sich ja etwas Erfreuliches, kann ein Auslöser sein, weil eben die neue Verantwortung auch eine deutliche Veränderung der Lebenssituation mit sich bringt.
Wann sollte ein Mensch professionelle Hilfe suchen?
Konrad: Dann, wenn man in seinem alltäglichen Leben eingeschränkt wird. Also wenn man im Schlaf so beeinträchtigt ist, dass man nicht mehr gut und normal durch den Tag kommt. Wenn das eigene Verhalten auch Auswirkungen auf Familie und Arbeit hat und man sich auch selbst nicht durch irgendwelche Maßnahmen erholen kann. Richtig zwingend wird es zum Arzt zu gehen, wenn sich die Gefühlswelt so verändert, dass man es gar nicht mehr schafft zu lachen oder zwischendurch mal fröhlich zu sein. Oder man sogar das Gefühl hat, dass Emotionen überhaupt nicht mehr in einem ankommen, auch traurige Emotionen nicht mehr wahrgenommen werden können. Ganz dramatisch und dringend hilfsbedürftig sind die Menschen, die an Suizid denken, die also darüber nachdenken, selber aus dem Leben scheiden zu wollen.
Suchen die Betroffenen in der Regel selbst den Arzt auf oder sind es eher die Angehörigen, die den Erkrankten mitbringen?
Konrad: Das ist sehr unterschiedlich. Viele unserer Patienten hier in der Klinik kommen von selbst, weil sie merken, dass etwas nicht in Ordnung ist. Diese haben dann auch schon mal etwas von der Erkrankung gehört. Viele Ambulanzpatienten von mir kommen mit der Frage, ob sie denn eine Depression hätten, ob man das schon so nennen könnte oder nicht. Interessanterweise ist es häufig so, dass jene Menschen, die richtig schwer erkrankt sind, ihren Zustand schon gar nicht mehr als Krankheit begreifen, sondern glauben, das sei eine Art von persönlichem Versagen oder Faulheit, von Charakterschwäche. Solche Erkrankten würden sich dann auch nicht zum Arzt trauen. Daher werden uns viele der richtig schwer Erkranken auch von den Angehörigen gebracht.
Gibt es eigentlich heutzutage genügend Behandlungsmöglichkeiten?
Konrad: Die gibt es, ja. Der Grundsatz der Depressionsbehandlung ist eigentlich, dass ich sagen würde: Man darf niemals die Flinte ins Korn werfen, irgendeinen Weg gibt es immer. Die Krankheit suggeriert den Betroffenen ja schon selbst eine Hoffnungslosigkeit. Umso überzeugter sollte der Arzt oder Therapeut davon sein, dass es noch viele Wege gibt. Am meisten fehlt mir, wenn ich mir langjährige Vorbehandlungen angucke, eine durchgreifend-positive Einstellung dazu, dass man am Ende etwas bewirken kann und dass die Depression eine behandelbare Erkrankung ist.
In schweren Fällen werden meistens Medikamente verabreicht, sogenannte Antidepressiva. Sind die ein Wundermittel?
Konrad: Leider nicht, sondern nur einer von mehreren Bausteinen in der Depressionstherapie. Antidepressiva sind speziell für die Stimmungsaufhellung konzipiert. Durch ihre Einnahme sollen die Symptome der Depression verschwinden. Ist jemand sehr zurückgezogen und sagt nichts mehr, dann helfen die Medikamente, wieder in den Ausgangszustand zurückzukommen, also dann wieder aufgeweckter und kontaktfreudiger zu sein.
Aber verändert die Einnahme nicht auch die Persönlichkeit?
Konrad: Nicht dahingehend, dass man darüber hinaus kontaktfreudiger oder gar manisch wird. Nein. Es gibt den Sonderfall der bipolaren Störung, der sogenannten manisch-depressiven Erkrankung. Da kann die Einnahme auf die manische Seite kippen. Bei den unipolaren Depressionen, die viel häufiger auftreten und über die wir ja hier reden, ist das aber nicht der Fall. Antidepressiva machen nicht abhängig und verändern nicht die Persönlichkeit.
Sind Medikamente die einzige Lösung bei einer Depression?
Konrad: Sicher nicht, da gibt es viele verschiedene Säulen der Therapie. Die eine Säule ist die Psychotherapie, die andere die medikamentöse Therapie. Dann gibt es noch biologische Verfahren, dazu zählen zum Beispiel die Wachtherapie, manchmal auch Schlafentzugstherapie genannt, oder die Lichttherapie. Manchmal kommen auch Stimulationsverfahren zum Tragen, wie die Elektrokrampftherapie. Und dann gibt es noch soziotherapeutische Verfahren, wo es darum geht, die Belastungen im sozialen Umfeld zu ändern. Das sind alles gute Therapieansätze.
Es muss also auf jeden Patienten einzeln eingegangen werden ...
Konrad: Ja, jeder Mensch kommt mit einer anderen Art der Vorbelastung zu uns und hat auch eine unterschiedliche Geschichte der Vorbehandlung – das werden wir alles berücksichtigen. Einer der Leitsätze lautet: Was früher einmal geholfen hat, hat die höchste Wahrscheinlichkeit, erneut zu helfen. Vor diesem Hintergrund fragen wir die Patienten immer sehr genau, wie die Vorbehandlungen waren und wie diese gewirkt haben.
Eine Depression ist also heilbar. Ist man sie dann auch für immer los?
Konrad: Das kann, muss aber nicht so sein. Wir sprechen ja von Phasen, von depressiven Episoden. Die hören wieder auf, weil jede quasi auch von selbst irgendwann aufhört. Trotzdem ist es so, dass es bei Menschen, die einmal eine depressive Episode durchlebt haben, eine erhöhte Rückfallwahrscheinlichkeit gibt. Die liegt nach einer Episode bei 50 Prozent, nach zwei Episoden schon bei 80 Prozent und nach drei Episoden hat man eine Rückfallwahrscheinlichkeit von 90 Prozent – unbehandelt. Das heißt, mit der Anzahl der Episoden, die man in seinem Leben hatte, wird es umso notwendiger, eine Rückfallprophylaxe zu machen. Deswegen ist die Behandlung mit dem Ende einer einzelnen Episode auch nicht abgeschlossen, sondern man muss immer als zweiten Therapiebaustein den Rückfallschutz bedenken und mit dem Patienten in Kontakt bleiben.
Zur Person
Seit 2015 ist Carsten Konrad Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Zentrums für Psychosoziale Medizin am Agaplesion Diakonieklinikum Rotenburg. Davor war er unter anderem leitender Oberarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Philipps-Universität in Marburg. Im vergangenen Jahr hat der 48-Jährige sein Fachbuch „Therapie der Depression“ im Springer-Verlag herausgegeben. Konrad, gebürtig aus Osnabrück, ist Mitbegründer und Vorsitzender des Vereins „Bündnis gegen Depression im Landkreis Rotenburg“, der es sich zum Ziel gemacht hat, mit öffentlichen Veranstaltungen über die Krankheit aufzuklären.