Er hat das „Miststück“ gut im Griff

Rotenburg - Von Wieland Bonath. „Jeden kann es treffen, aber die Erkrankung ist heilbar“, sagt Professor Carsten Konrad, Chefarzt des Zentrums für Psychosoziale Medizin am Diako und Vorsitzender des Bündnisses gegen Depression, zu Beginn in der voll besetzten Stadtbibliothek im Kantor-Helmke-Haus.
Für Schamgefühl und Scheu, so der Mediziner zu den etwa 70 Besuchern der achten und damit letzten Veranstaltung der „Herbsttour 2019”, sei kein Platz. Konrad begrüßte den 53-jährigen Journalisten Alexander Wendt, selbst Betroffener und Autor des Buchs „Du Miststück – meine Depression und ich”. Zu dem Abend gehörte eine Lesung aus dem im Fischer-Verlag erschienenen Buch – im Mittelpunkt der gut einstündigen Veranstaltung stand jedoch ein ausführlicher Dialog der Besucher mit dem Autor: Fragen nach Einzelheiten eines tückischen Leidens, von dem etwa fünf Millionen Menschen in Deutschland betroffen sind – Antworten von einem Mann, der aus eigenem Wissen und eigenen Erfahrungen schöpfen konnte.
Wendt, der an diesem Abend auf seinen Partner, den Schauspieler Simon Licht, kurzfristig verzichten musste, hatte vor fünf Jahren damit begonnen, für sein Buch erste Skizzen zu machen, als er sich aufgrund einer seit Jahren bestehenden eigenen Depression selbst in die Psychiatrie der Uni München eingewiesen hatte. Mit Ängsten und Vorurteilen, wie es den meisten Betroffenen ergehe. Aber es sei eine gute Entscheidung gewesen. Ihm sei von den Ärzten geholfen worden, man habe das richtige Medikament gefunden.
Alexander Wendt las am Mittwoch einen längeren Abschnitt aus dem ersten Teil seines Buchs. Ihm selbst sei es bereits nach fast drei Wochen Behandlungszeit in der Klinik so gut gegangen, dass er habe entlassen werden können – ungleich schwerer habe die Krankheit in ihren unterschiedlichen Schattierungen andere Patienten getroffen. Sich mit diesen Menschen auszutauschen, das sei ein wichtiger Aspekt seines Klinikaufenthalts gewesen.
Wendt hat bei sehr viel Verständnis von Kollegen und Bekannten längst wieder den Weg zurück in seinen Beruf gefunden. Er hat inzwischen die „Tricks”, mit seinem „Miststück”, die Krankheit Depression, richtig umzugehen, gelernt. Kündigt sich eine „Episode” an, dann kann er entsprechend reagieren und gegenhalten. Der 53-Jährige, der es offensichtlich geschafft hat, seine Depression zu „dressieren”, wies darauf hin, dass das Leben anderer Betroffener problemreicher sei. Alexander Wendt gab auf entsprechende Fragen eine Reihe von Tipps: zum Beispiel Sport betreiben, nicht tatenlos im Sessel sitzen, die angemessene Ernährung sei wichtig, wer Interesse und Talent habe, sollte zur Feder greifen und schreiben. Auch heute noch schwebe über dem Krankheitsbild Depression vielfach ein Schleier des Verschweigens. Das sei, betonte Alexander Wendt, nicht der richtige Weg. Er habe mit einer von Depressionen betroffenen Politikerin gesprochen und von ihr erfahren, dass sie jetzt in ihrer aktiven Zeit nicht öffentlich darüber sprechen könne, um sich nicht zu schaden. Das müsse in der Phase geschehen, wenn sie sich in den Ruhestand zurückgezogen habe. Ähnlich ergehe es einer Reihe von Sportlern.
Ihm sei es wichtig, betonte Wendt, die bei manchen Menschen noch vorhandene Angst vor Medikamenten zu nehmen. Positiv sei, „dass das Thema Depression nicht mehr mit dem Stigma wie in der Vergangenheit” behaftet sei. Hinzu komme, dass die Therapiemöglichkeiten besser geworden seien und sich weiter verbesserten.
Trotz allem: Es sei auch heute noch einfacher zu sagen „Ich komme mit einem Rückenleiden aus der Klinik”, als zu sagen „Ich komme aus der Psychiatrie.”
Konrad im Gespräch mit dieser Zeitung: „Es ist uns gelungen, das Thema ,Psychische Erkrankungen‘ an verschiedenen öffentlichen Orten in der Gesellschaft zu diskutieren. Das Gespräch über psychische Erkrankungen wird selbstverständlicher, das Fragen und Annehmen von Hilfe für die Betroffenen einfacher.” Der Chefarzt, der vor vier Jahren die Arbeit des Bündnisses gegen Depression im Landkreis Rotenburg kreierte, begrüßt, dass das Anliegen des Vereins seinen Weg in die breite Gesellschaft gefunden hat: unter anderem über die Bereiche Schulen, Banken, Wirtschaftsbetriebe und über psychosoziale Berufe. Carsten Konrad: „Im nächsten Jahr kommt mit Sicherheit die nächste Veranstaltungsreihe.”