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Im Landkreis Rotenburg ist Lehrermangel durchaus ein Thema

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Von: Judith Tausendfreund

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Cordula Mielke und Frank Beckmann berichten über den Lehrermangel.
Cordula Mielke und Frank Beckmann berichten über den Lehrermangel. © Tausendfreund

Rotenburg – Mehr Lehrkräfte für die Schulen, das fordert die Gewerkschaft Erziehung und Bildung (GEW). Das niedersächsische Kultusministerium gibt eine statistische Unterrichtsversorgung von 96,3 Prozent für das Schuljahr 2022/2023 in Niedersachsen an. Es besteht also eine Unterversorgung. Wir haben mit Cordula Mielke und Frank Beckmann, beide im GEW-Kreisverband Rotenburg aktiv, über das Thema gesprochen.

Wie wirkt sich der Lehrermangel konkret im Schulalltag aus?

Mielke: An unserer Schule (Wiedau-Schule Bothel) ist wiederholt eine Stelle ausgeschrieben, die nicht besetzt werden kann. Auch an anderen Schulen konnten mehrere Stellen nicht besetzt werden. Auch muss fachfremd unterrichtet werden, weil es eben keine Physik- oder Hauswirtschaftslehrkräfte gibt. Wir bräuchten eine weitere Physiklehrkraft, aber die werden wir hier in unserer ländlichen Gegend nicht bekommen.

Beckmann: Im Alltag entsteht eine erhöhte Belastung. Durch den bestehenden Mangel kommt es beispielsweise mitten im Schuljahr zu Abordnungen. Andere Kollegen müssen an zwei Schulen unterrichten und dann von A nach B fahren. Vertretungsunterricht muss kurzfristig geleistet werden, dann müssen mal eben zwei Klassen gleichzeitig unterrichtet werden. Das bedeutet, dass eine Klasse mit Stillarbeit beschäftigt, aber nicht wirklich unterrichtet wird. Nach meinem Kenntnisstand konnten zum Februar 2023 maximal 50 Prozent der Stellen im Landkreis Rotenburg besetzt werden – das ist gravierend.

Welche praktischen Schwierigkeiten treten auf?

Mielke: Da die Schülerbeförderung reduziert wurde, können Schüler nicht später kommen oder früher fahren, sondern müssen in der Schule betreut werden.

Beckmann: Wir fordern seit Jahren eine 107-prozentige Versorgung mit Lehrkräften, um eine Krankheitsvertretung realisieren zu können. Denn, ganz ehrlich, wir gehen auf dem Zahnfleisch. Sobald jemand ausfällt, hat man ein Loch, das nicht mehr gestopft werden kann.

Mielke: Es gibt kleine Schulen, an denen sind zum Beispiel zwei Kolleginnen schwanger, dann gibt es noch einen Langzeiterkrankten – so eine Situation kann das Kollegium nicht mehr auffangen.

Wie ist der Lehrermangel eigentlich entstanden?

Beckmann: Vor 30 Jahren gab es noch einen Einstellungsstopp, weil zu viele Lehrkräfte „auf dem Markt“ waren. Es gab aber damals schon Studien und Zahlen. Man hätte gut erkennen und einfach berechnen können, dass der Bedarf schon lange ein anderer geworden ist.

Mielke: In den letzten Jahren kamen Krisen hinzu: Die steigende Zahl geflüchteter Kinder, die Deutsch als Zweitsprache erlernen, Corona, und jetzt die rund 20 000 zusätzlich zu beschulenden ukrainischen Schüler und Schülerinnen.

Warum ist es so schwierig, etwa einen Physiklehrer nach Bothel zu bekommen?

Mielke: Es gibt ohnehin kaum Physiklehrkräfte. Und die Absolventen, die es gibt, die wollen nicht unbedingt in ländliche Regionen. In Rotenburg fährt wenigstens noch ein Zug nach Hamburg oder Bremen. Aber hier? Es besteht zwar die Möglichkeit, für schwer zu besetzende Stellen Zulagen zu zahlen und nach drei Jahren eine Versetzung an die Wunschschule anzubieten, aber wie kommt das im Kollegium an, wenn die eine Lehrkraft mehr Gehalt erhält als der andere und nach drei Jahren gehen kann? Das ist schwierig.

Beckmann: Wer hier im Landkreis eine Stelle antritt, wird dann auch nicht mehr landkreisübergreifend versetzt, weil man dann ja wieder einen Mangel hätte – auch das hemmt, sich überhaupt hier anzusiedeln. Hinzu kommt, dass andere Bundesländer A 13 zahlen. Wer hier hinkommt, wird schlechter bezahlt und kommt schwer wieder weg.

Geht es allen Schulen im Landkreis so?

Beckmann: Es gibt ein Gefälle von Süd nach Nord, die Versorgung im Norden ist schlechter. In Rotenburg und Sittensen geht die Lage noch, vor allem auch wegen der guten Anbindung an die größeren Städte. In Gnarrenburg, Bremervörde und Tarmstedt sieht es ganz schlecht aus.

Mielke: An Gymnasien sieht die Situation grundsätzlich besser aus als an den anderen weiterführenden Schulen. Dort ist zum einen die Bezahlung schlechter, Gymnasiallehrkräfte erhalten A13, andere Lehrkräfte A12. Zum anderen sind die Arbeitsbedingungen schwieriger. Denn gerade an den sogenannten Brennpunktschulen sammeln sich die Schüler und Schülerinnen, die mehr Unterstützung brauchen. An diesen Schulen haben wir landesweit eine ganz schwierige Situation.

Wie wirkt sich diese Situation auf die Schüler und die Lehrer aus?

Beckmann: Wir werden in eine Bildungskatastrophe laufen. Es werden Stunden eingespart, um den Lehrermangel zu kompensieren, doch das geht zulasten der Bildung, aber auch der Förderung, Projekte fallen aus und gerade die Dinge, die in Schule Spaß machen, fallen weg. Aber schlimmer noch: Schülern und Schülerinnen kann nicht mehr das erforderliche Wissen vermittelt werden.

Mielke: Wenn jetzt noch der Forderung der CDU, den Ganztag nur noch mit externen Fachkräften auszustatten, nachgegeben wird, ist das ein großer pädagogischer Rückschritt. Vieles, was schon erreicht wurde, wird geopfert. Auch Inklusion kann nicht mehr pädagogisch sinnvoll umgesetzt werden, wenn personelle Ressourcen fehlen.

Warum kann Inklusion so nicht gelingen?

Beckmann: So wie Inklusion eigentlich geplant war, war es gut. Die Bedingungen waren allerdings von Anfang an ausbaufähig. Jetzt aber kommen von den Vorgaben, die ursprünglich umgesetzt werden sollten, gerade mal noch 40 Prozent an den Schulen an. Die wenigen Lehrkräfte, die für das Thema ausgebildet sind, pendeln als Reiselehrkräfte zwischen mehreren Schulen.

Mielke: Durch die Inklusion hat man in einzelnen Stunden eine Doppelbesetzung in der Klasse. Aber durch den Lehrermangel fällt diese ganz schnell weg. Das geht zulasten der Kinder und Jugendlichen, die die Förderung dringend brauchen.

Sind Quereinsteiger eine Möglichkeit, den Mangel aufzufangen?

Beckmann: Wir brauchen die Quereinsteiger, aber wir müssen sie qualifizieren. Das „Lehrkräfte-Gewinnungspaket“ des Kultusministeriums hat für unseren Landkreis bisher keine Erfolge gebracht. Soweit ich weiß, wurde hier zuletzt gerade mal eine einzige Lehrkraft dadurch gewonnen.

Mielke: Wenn wir die Quereinsteiger vernünftig qualifizieren, also auch mit universitärer Weiterbildung, dann fehlen sie für die Zeit wieder im Unterricht. Die ganze Situation ist wie eine Tischdecke, die einfach zu kurz ist: Egal, an welcher Ecke man zieht, es fehlt immer ein Stück.

Warum hat das Lehrkräftegewinnungspaket zu wenig Erfolg?

Beckmann: Man versucht mit dem Paket Quereinsteiger, Teilzeitkräfte und Pensionäre zu gewinnen. Doch wer in den Ruhestand geht, der möchte doch nicht wieder die Arbeit aufnehmen. Quereinsteiger sind ohne die notwendige Qualifizierung schnell überfordert. Und die Teilzeitkräfte, die man zu mehr Stunden verpflichten will, haben in der Regel zu Hause Aufgaben, die eben auch erledigt werden müssen.

Mielke: Es gibt bisher keine Statistik, die belegt, wie viele Quereinsteiger wieder aussteigen, aber es gibt sie. Und viele Lehrkräfte reduzieren ihre Stunden, um die Arbeit überhaupt noch leisten zu können. Andererseits wäre die Schule ohne die Teilzeitkräfte gar nicht mehr zu organisieren, denn sie springen ein, wenn Unterricht ausfällt und Vollzeitkräfte gebunden sind. Sie leisten in der Regel deutlich mehr, als sie eigentlich müssten. Um sie zu motivieren, ihre Arbeitszeit zu erhöhen, müssten also die Belastungen gesenkt werden. Im Zusammenhang mit Teilzeit ist aber auch darauf hinzuweisen, dass es im Bereich der Schulsozialarbeit und der pädagogischen und therapeutischen Fachkräfte noch immer Zwangsteilzeitverträge gibt. Hier müssen Möglichkeiten der Vollzeitbeschäftigung geschaffen werden, um die Attraktivität zu steigern.

Welche weiteren Probleme stehen aus Ihrer Sicht außerdem noch an?

Mielke: Aktuell gestaltet sich auch die Beschulung der Kinder und Jugendlichen aus der Ukraine als besondere Herausforderung. Es fehlt auf beiden Seiten an den notwendigen Sprachkenntnissen und – trotz aller Bemühungen – kann oftmals eher von einer Verwahrung denn Beschulung gesprochen werden.

Beckmann: Schwierig ist auch das schlechte Ansehen der Lehrkräfte. Es fehlt an Akzeptanz und Wertschätzung. Auch deshalb wollen viele Studierende den Beruf nicht mehr ergreifen. Die real existierende Mehrbelastung muss auch anerkannt werden – auch deshalb fordern wir eine Bezahlung nach A13 und Entlastungen. Es fehlt insbesondere seit Corona an der erforderlichen Sozialkompetenz. Anerkennung und Respekt den Lehrkräften gegenüber, das hat stark nachgelassen.

Wie können Lösungen aussehen, gerade auch hier bei uns im Landkreis Rotenburg?

Mielke: Wir dürfen die Standards der Qualität – auch im Hinblick auf die Ergebnisse von Studien – nicht herabsetzen. Eine Stellschraube ist sicher die einheitliche Besoldung aller Lehrkräfte, die wir als GEW fordern. Generell muss man den Beruf attraktiver gestalten. Auch Teilzeitmöglichkeiten gehören dazu.

Beckmann: Kurzfristig sehe ich keine Lösung. Mittel- und langfristig wäre es gut, wenn wir wieder ein Ausbildungsseminar für Referendare bekommen. Das gab es früher in Zeven und wurde abgeschafft. Wenn wir über dieses Seminar die Referendare erst einmal in unsere Region bekommen, ist das eine Chance, dass sie dann auch als Lehrkraft bleiben.

Welche Ideen könnte man noch entwickeln, um mehr Lehrkräfte in die Region zu bringen?

Mielke: Der Landkreis und die zuständigen Gemeinden könnten die Ausstattung der Schulen und Gebäude attraktiver gestalten, vielleicht würde das ein wenig helfen. Vor 40 Jahren war es noch so, dass die Gemeinden Grundstücke an Lehrkräfte verkauft haben, aber ob das heute noch attraktiv wäre, ist fraglich. Wenn man die vielen kleinen Grundschulen zusammenlegen würde, würde man nicht nur Personal gewinnen, sondern könnte auch Investitionskosten senken und den Erziehungsberechtigten verlässliche und attraktive Betreuungsangebote bieten. Aber das ist ein Thema, dem sich die Kommunalpolitik seit Jahren entzieht, obwohl es auch im Landkreis ermutigende Beispiele mit einer Win-Win-Situation für alle gibt.

Beckmann: Die Schulträger, also der Landkreis und die Gemeinden, könnten zudem mehr Personal, zum Beispiel für Fragen der IT oder Aufgaben der Sekretariate zur Verfügung stellen, um so die Lehrkräfte und Beschäftigten zu entlasten. Auch das würde helfen. Aber: Schnelle Lösungen wird es leider wohl nicht geben können.

Von Judith Tausendfreund

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