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„Stigma der Psychiatrie überwinden“: Mediziner Carsten Konrad über die Rotenburger Psychiatrie

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Von: Tom Gath

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Prof. Dr. Carsten Konrad sieht deutliche Fortschritte bei den psychiatrischen Behandlungsmöglichkeiten von Patienten.
Prof. Dr. Carsten Konrad sieht deutliche Fortschritte bei den psychiatrischen Behandlungsmöglichkeiten von Patienten. © Agaplesion Diakonieklinikum/Heyer

Rotenburg – Viele Menschen verspüren beim Gedanken an die Psychiatrie noch immer Unbehagen. Fehlendes Wissen, aber auch die fragwürdige Vergangenheit der Disziplin, spielen bei diesem Bild eine große Rolle. Im Interview spricht der Leiter der Rotenburger Psychiatrie über zwangsweise Unterbringungen, neue Behandlungsansätze und seine Haltung zu Medikamenten. Und er fordert mehr Personal sowie verbesserte räumliche Ressourcen.

Herr Prof. Konrad, was ist eine psychische Erkrankung?

Erkrankungen der Psyche betreffen verschiedene Bereiche des menschlichen Seins: das Fühlen, das Handeln, das Denken und die Interaktion mit anderen Menschen. Wenn einer dieser Prozesse gestört ist, kann eine psychische Erkrankung zugrunde liegen oder die Folge sein.

Und für welche Patienten ist ein stationärer Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik sinnvoll?

Wenn jemand aufgrund der Schwere seiner psychischen Erkrankung nicht mehr in der Lage ist, im Alltag selbstständig zurechtzukommen, und auch die Angehörigen das nicht mehr kompensieren können.

Allerdings begeben sich nicht alle Patienten freiwillig in die Psychiatrie. Ein Teil der Behandelten wird aufgrund einer befürchteten Selbst- oder Fremdgefährdung zwangsweise untergebracht. Wie hoch ist der Anteil der untergebrachten Patienten?

Die weit überwiegende Anzahl, ich würde sagen 90 Prozent, begibt sich freiwillig in die Behandlung. Nur ein kleiner Anteil wird aufgrund gesetzlicher Regelungen untergebracht. Die Psychiatrie spielt da aber keine Sonderrolle. Es gibt für alle Erkrankungen gesetzliche Regelungen, wie Menschen medizinisch geholfen werden kann, wenn sie nicht mehr für sich selbst entscheiden können.

Mit welchen besonderen Herausforderungen sind Sie bei der Behandlung von untergebrachten Patienten konfrontiert?

Psychische Erkrankungen sind für alle Menschen schwer zu tragen. Noch schwerer wird es, wenn ein Mensch krankheitsbedingt nicht erkennen kann, dass eine Erkrankung vorliegt. Wir versuchen dann, einen gemeinsamen Ansatzpunkt zu finden und Symptome zu identifizieren, die der Mensch von sich aus behandeln möchte. Letztlich müssen wir ein gemeinsames Behandlungsziel erarbeiten, man kann als Therapeut nicht gegen den Patienten arbeiten. Aber wie gesagt: Diese Fälle sind die Ausnahme.

Wie sieht denn ein typischer Behandlungstag in der stationären Psychiatrie aus?

Die Gemeinschaft nimmt bei uns einen großen Stellenwert ein. Das Frühstück wird gemeinsam eingenommen und es gibt eine Morgenrunde, wo die verschiedenen Bedürfnisse und Tagesziele besprochen werden. Dann geht es in die einzelnen Therapien. Wir bieten Ergotherapie, Physiotherapie sowie psychologische Einzel- und Gruppengespräche an. Viele Patienten haben zu Hause die Struktur verloren. Wochen- und Tagespläne helfen deshalb sehr, diese Menschen wieder zu stabilisieren.

Manche scheuen sich vor einem Gang in die Psychiatrie und Anwohner äußern immer wieder Unbehagen, wenn eine Klinik in ihrer Nachbarschaft entsteht. Warum hat die Psychiatrie einen so schlechten Ruf?

Die Ausgrenzung psychisch Kranker hat leider eine jahrhundertealte Tradition. Noch im 19. Jahrhundert sind sie in sogenannten „Irrenanstalten“ eingesperrt worden. Und einige – wohlgemerkt nicht alle – Menschen mit einer psychischen Erkrankung zeigen ja auch Verhaltensweisen, die andere Menschen als störend empfinden. Das Ziel einer Abteilungspsychiatrie ist heute aber, dass psychisch kranke Menschen so gut es geht am normalen Leben teilnehmen. Deswegen ist es wichtig, dass eine psychiatrische Klinik mitten in der Stadt liegt.

Die Ausgrenzung und Entmündigung von Patienten wurde bis weit ins 20. Jahrhundert aber auch von Psychiatern mitgetragen. Wie sieht denn die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte innerhalb der Disziplin aus?

Ich gebe Ihnen vollkommen recht, dass Teile der Vergangenheit dieses Faches ziemlich trübe sind. Und in anderen Ländern, die nicht so rechtsstaatlich funktionieren wie Deutschland, wird die Psychiatrie auch heute noch missbraucht, etwa um politische Gegner „wegzusperren“. In der deutschen Psychiatrie hat in den 1990er Jahren zum Glück ein großes Umdenken stattgefunden. Seitdem wird viel mehr auf die Bedürfnisse der Patienten geachtet, auch Schlafsäle gehören der Vergangenheit an. Zudem haben sich seit den 1950er Jahren durch die Entwicklung von pharmakologischen Behandlungsmethoden die Therapiemöglichkeiten drastisch gewandelt.

Betroffene berichten allerdings auch von starken Nebenwirkungen und einer eher lockeren Verordnungspraxis. Ist die Medikation manchmal auch eine zeitsparende Methode, um anstrengende Patienten ruhig zu stellen?

Auf keinen Fall. Der Einsatz eines Medikaments beruht bei jedem einzelnen Menschen auf einer Nutzen-Risiko-Abwägung. Danach wird entschieden, ob wir ein Medikament empfehlen oder nicht. Eine Ruhigstellung hat ja gar keinen Nutzen, wenn die Grunderkrankung nicht behandelt wird. Außerdem kämen solche Therapien für uns aus ethischen Gründen auf keinen Fall in Betracht: Der Patient steht im Mittelpunkt der Therapie.

Der Nutzen und die Risiken werden aber von verschiedenen Psychiatern durchaus unterschiedlich eingeschätzt. Wo würden Sie sich innerhalb dieser Debatte verorten?

Ich gehöre zu denen, die sich pragmatisch danach richten, was in welchem Kontext hilft. In verschiedenen Kontexten würden Sie mich deswegen sehr unterschiedlich erleben. Bei Menschen mit geistigen Behinderungen bin ich sehr restriktiv, da werden häufig zu schnell Medikamente verschrieben. In anderen Bereichen wie der Depressionsbehandlung wird oft der Stufenplan der Behandlung nicht konsequent und schnell genug umgesetzt. In diesem Feld bin ich aufgrund meiner Erfahrung ab einem bestimmten Schweregrad der Meinung, dass es gar nicht ohne Medikamente geht. Das erörtere ich aber ausführlich mit den Patienten.

Welche Institutionen und Kontrollmechanismen gibt es heute abgesehen von Medikamenten, um an einer kontinuierlichen Verbesserung der Psychiatrie zu arbeiten?

Ich habe den Eindruck, dass die Patientenfreundlichkeit mit jedem Jahr weiter voranschreitet. Es ist wichtig, dass die Patienten die Möglichkeit haben, sich an unabhängige Patientenfürsprecher oder Beschwerdestellen zu wenden oder gerichtlich Einspruch zu erheben. Zusätzlich gibt es staatliche Aufsichtsbehörden, denen wir halbjährliche Berichte vorlegen müssen. Und es gibt seit vielen Jahren die Besuchskommissionen, die die Kliniken aufsuchen und sich vor Ort ein Bild machen. Darüber hinaus finde ich es wichtig, auch intern eine offene Kommunikationskultur zu leben, damit alle Mitarbeiter auf Missstände hinweisen und Verbesserungsvorschläge formulieren können.

Helfen bei dieser Weiterentwicklung auch die sogenannten Genesungsbegleiter?

Ja, seit etwa zwei Jahren beschäftigen wir Menschen, die selber Erfahrungen mit psychischen Krankheiten mitbringen. Diese psychiatrieerfahrenen Genesungsbegleiter stellen die Perspektive unserer Patienten noch mehr in den Mittelpunkt. Damit haben wir extrem gute Erfahrungen gemacht.

Was hat es mit dem „trialogischen Gedanken“ auf sich?

Bei einem Trialog tauschen sich Patienten, Angehörige und Profis auf Augenhöhe aus, das ist extrem fruchtbar. Zusammen mit der Gesellschaft für Soziale Hilfen, Tandem e. V. und dem Sozialpsychiatrischen Dienst des Landkreises veranstalten wir regelmäßig trialogische Treffen in Bremervörde, Zeven und Rotenburg. Auch die Einbeziehung von Selbsthilfegruppen ist wertvoll.

Der Psychiatrieausschuss des niedersächsischen Landtags bewertet in seinem aktuellen Bericht rund ein Viertel der besuchten Einrichtungen als kritisch. Dabei wird insbesondere die Personalknappheit bemängelt. Welche Maßnahmen könnten hier Abhilfe schaffen?

Wir können nur so gut behandeln, wie es von den Krankenkassen gegenfinanziert wird. Und da liegt für mich der Knackpunkt: Die Kassen halten an der Personalbemessung an einem Konstrukt fest, das aus den 1990er Jahren stammt, das aber die aktuellen psychotherapeutischen Entwicklungen nicht berücksichtigt. In diesem Punkt müssen wir für unsere Patienten kämpfen.

Neben der Personalnot werden vom Ausschuss auch bauliche Mängel kritisiert. Wie ist die Situation in Rotenburg?

Die Versorgung mit psychiatrischen Ressourcen ist im Land Niedersachsen extrem unterschiedlich verteilt und korreliert überhaupt nicht mit der Einwohnerzahl. Wir gehören zu den deutlich unterversorgten Regionen und versorgen mit unserer Klinik 300 000 Menschen im Landkreis Verden und Rotenburg. Um eine angemessene psychiatrische Versorgung sicherzustellen, benötigen wir auch mehr räumliche Ressourcen.

Was ist Ihre Vision der Psychiatrie im Jahr 2050?

Als Erstes wünsche ich mir, dass sich niemand mehr für eine psychische Krankheit schämt und wir das Stigma der Psychiatrie überwinden. Es gehört einfach ins öffentliche Bewusstsein, dass es jeden treffen kann. Außerdem hoffe ich, dass wir noch effektivere Behandlungsmethoden zur Verfügung haben. Und damit meine ich nicht nur Medikamente, auch die psychotherapeutischen Methoden werden ständig weiterentwickelt.

Können Sie sich eine Gesellschaft vorstellen, in der gar keine psychiatrische Behandlung mehr notwendig ist?

Ich glaube, dass es immer psychische Erkrankungen geben wird. Die psychischen Mechanismen sind evolutionär in unserem zentralen Nervensystem angelegt und wichtig für uns. Sie sind wie jede andere Funktion auch anfällig für Erkrankungen. Die Gesellschaft kann aber lernen, damit verständnisvoller und unterstützender umzugehen. Jeder Mensch ist einzigartig, und diese Vielfalt macht unsere Gesellschaft aus.

Manche Kritiker beklagen, dass der psychiatrische Diskurs das Leid von Menschen individualisiert und somit die gesellschaftlichen Ursachen dieser Probleme verdrängt. Wie stehen Sie zu dieser Grundsatzkritik?

Wir erklären psychische Krankheiten mit dem biopsychosozialen Modell. Psychische Erkrankungen allein sozial zu erklären, halte ich für falsch, weil es auch die biologischen und psychischen Ursachen gibt. Aber ein Teil der Kritik ist zutreffend. Die gesellschaftlichen Bedingungen tragen sicherlich dazu bei, dass psychische Erkrankungen entstehen. Unsere Klinik arbeitet deshalb auch mit einem hohen Anteil von Sozialtherapeuten, die die sozialen Aspekte der Erkrankungen berücksichtigen.

Abschließend zurück in die Gegenwart: Was sind die schönsten Momente Ihrer täglichen Arbeit?

Wenn die am schwersten erkrankten Patienten, über die ich mir am meisten Sorgen gemacht habe, wieder genesen sind und ich das miterleben kann.

Zur Person

Seit 2015 ist Prof. Dr. Carsten Konrad Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Zentrums für Psychosoziale Medizin am Agaplesion Diakonieklinikum Rotenburg. Davor war er unter anderem leitender Oberarzt und Professor für Kognitive Neuropsychiatrie an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Philipps-Universität in Marburg. Er ist ein Experte für das Thema Depressionsbehandlung sowie Mitbegründer und Vorsitzender des Vereins „Bündnis gegen Depression im Landkreis Rotenburg“.

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