Nicole Johänntgen definiert mit „Henry“ den New Orleans Jazz neu

Rotenburg - Herbstliches Ambiente statt lauer Sommernacht, Kantor-Helmke-Haus statt Open-Air-Bühne – das 2008 vom Kulturbahnhof etablierte Jazzfestival kam nach einem Jahr Pause als „Autumn Leaves Jazz Festival“ am Samstagabend in neuem Gewand daher.
Geblieben ist das Konzept, dem Hauptact, der Ausnahme-Saxophonistin Nicole Johänntgen und ihrem Quartett zwei regionale Bands voranzustellen. So mussten die weit über hundert Besucher unter dem Dach der Volkshochschule langen Atem beweisen, bis die im Wümmeort mit Spannung erwartete alte Bekannte nach zweieinhalb Stunden mit ihrem neuen Projekt „Henry“ loslegen durfte.
Schon die Opener sorgten bei den Jazz-Fans für erfreute Gesichter. Im ersten Set bot die Dozentenband des jährlichen Jazz-Workshops eine feine Mischung aus Jazzstandards wie von Al Jarreau, Doldinger, Bossa-Nova-Papst Jobim oder eine funkige Frischzellenkur für „Mr. Magic“, die ihren Charme durch die enorme Präsenz von Evelyn Gramel am Mikrofon gewann. Gert Lueken wagte mit „Asi no mas“, in dem er ähnlich versierte Improvisationen an den Tasten zeigte wie sonst am Saxophon, einen Rückblick in seine wilde Latin-Phase der 80er Jahre.
Aus dieser Zeit datiert auch die Formation „Session Group“, aus der der aus London eingeflogene alte Mitstreiter Manni Naumann an den Drums zur „Groove Collection“ im zweiten Set als Gast hinzustieß. Er sollte nicht der einzige Überraschungsgast des Abends sein: Zuvor hatte sich die Formation um Jürgen Kolbe beim Landgren-Arrangement von „Summer Night City“ zug-starke Unterstützung durch den Posaunisten des Hauptacts John Ramm, geholt.
Als Kolbe nach der ersten Pause auch noch die Star-Saxophonistin Nicole Johänntgen selbst für einige Stücke auf der Bühne begrüßen durfte, war sein Glück perfekt: Wann hat ein Musiker schon Gelegenheit, mit seinem Vorbild performen zu dürfen, noch dazu eigene Stücke? Ein Geschenk auch für die Zuhörer: das Duett der Schweizerin mit Saxophonist Michael Prott in „It´s still Funk“ – das war Lebensfreude pur.
Leider war diese beim Publikum angesichts der langen Wartezeit bis zum Auftritt von „Henry“ etwas in Mitleidenschaft gezogen – nicht bei allen reichte die Kondition bis zum Ende. Schade, denn was das Quartett in der ungewöhnlichen Besetzung mit Posaune und Sousaphon bot, definierte den New-Orleans-Jazz neu. In Erinnerung an den eigenen Vater Heinrich gegründet, der die Kinder morgens gern mit einer Posaunenfanfare weckte, dominierten geniale Diskurse zwischen Saxophon und dem hochkarätigen Posaunisten Jon Ramm.
Die eigentliche Überraschung für die, die das Erstlingswerk von „Henry“ nicht kannten: „Tuba-Steve“ Steven Glenn. Unglaublich, was er aus dem sonst oft zum Begleitinstrument degradierten Blechtrumm solistisch herausholte. Diese Spielfreude, kongenial unterlegt von Paul Thibodeaux am Schlagzeug, riss mit.
Groovend, tanzend, lässig und lasziv spielten sich Johänntgen und ihre drei Importe aus New Orleans durch Titel wie „Fahrtwind“, flochten schelmisch hier einen Marsch, dort ein „Ghost Busters“ ein und lieferten ab: Statt verstaubter, verkopfter Standards gab es eine spannende, freche Melange, die Bezüge auf den New Orleans Jazz nahm und neu interpretierte.