Zwangsmaßnahmen im Diakonieklinikum „absolute Ausnahmesituationen“

Rotenburg - Von Guido Menker. Ein in einer beliebigen Krankenhausabteilung untergebrachter Mann steht vollkommen neben sich. Er hat sich nicht mehr unter Kontrolle und greift das Pflegepersonal an sowie zu allem, was ihm in die Finger kommt. Er wirft damit um sich. Es fliegen Tassen, Teller und Gläser. Der Mann ist nicht zu beruhigen, seine Aggression nimmt zu, auch andere Patienten sind gefährdet, auf Zuspruch reagiert er nicht mehr. Am Ende wird der Mann gegen seinen Willen fixiert.
Eine Notsituation, sagen die zuständigen Ärzte und Pfleger. Es ist die letzte wirksame Maßnahme. Eine Maßnahme, die durchaus auch im Agaplesion Diakonieklinikum Rotenburg ergriffen werden muss. Wie oft, kann Olaf Abraham, Pflegedirektor am Diako, nicht sagen. Es geschieht jedes Jahr tausendfach in deutschen Kliniken: Patienten werden mit Gurten ans Bett fixiert, weil sie sich selbst oder andere gefährden. Zwei Betroffene aus Bayern und Baden-Württemberg wollen diesen Eingriff in ihre Freiheit nicht einfach hinnehmen und sind jetzt vor das Bundesverfassungsgericht nach Karlsruhe gezogen.
„Es kommt sehr selten vor“
Da stellt sich die Frage, wie die Krankenhäuser im Alltag – und zwar nicht nur in der Psychiatrie – mit dieser Problematik umgehen. Wir haben dazu im Diakonieklinikum Rotenburg nachgefragt. „Es kommt sehr selten vor“, sagt Abraham. Zahlen dazu könne er nicht nennen, weil die Situationen, in denen es zu Fixierungen kommen kann, sehr unterschiedlich seien und entsprechend schlecht abgegrenzt werden könnten.
Beispiel: das Durchgangssyndrom nach einer OP. Weitere Situationen seien Fremdaggression und Notwehr. Abraham: „In allen diesen Situationen kommt die Fürsorgepflicht des Krankenhauses zum Tragen.“ Die Rahmenbedingungen für derartige Zwangsmaßnahmen seien gesetzlich ganz klar geregelt. Da sei das Niedersächsische Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen für psychisch Kranke – ein Landesgesetz. Und da sei auch das bundesweit gültige Betreuungsgesetz. Professor Dr. Carsten Konrad, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie: „Darin sind die Voraussetzungen für freiheitsbeschränkende Maßnahmen wie die Fixierung definiert, beispielsweise bei Selbst- oder Fremdgefährdung.“
Voraussetzung sei, dass sehr hochwertige Güter wie das Leben des Patienten oder das Lebens anderer Menschen in Gefahr und alle anderen Möglichkeiten der Problemlösung ausgeschöpft sind. Patienten mit psychischen Erkrankungen seien aber nicht aggressiv oder gefährlich, das sei ein Stigma, gegen das man ankämpfen müsse. Das Thema werde in den Medien überbetont und halte Menschen davon ab, sich in eine dringend benötigte Behandlung zu begeben.
Olaf Abraham spricht von vorgeschalteter Deeskalation. Vor allem auch die Teams in der Notaufnahme seien dahingehend besonders geschult. „Das Fixieren ist eine absolute Ausnahme“, sagt er. Ohne jede Not sei eine derartige Zwangsmaßnahme absolut indiskutabel. Und es sei auch keine personalsparende Maßnahme. Komme es dazu, sei das Gegenteil der Fall.
Eine solche Entscheidung bedürfe zudem einer richterlichen Genehmigung, wenn die Situationen, die eine Fixierung erfordern, regelhaft und vorhersehbar auftritt und der Betroffene nicht einsichtsfähig ist. Bei Menschen mit Betreuung entscheide das Vormundschaftsgericht auf Antrag des Betreuers. Kommt es in einer Notsituation zu einer Zwangsmaßnahme wie die Fixierung, muss sich das Krankenhaus spätestens am nächsten Tag an den zuständigen Richter wenden.
„Wir wollen nicht fixieren“
Aber: „Wir wollen nicht fixieren“, sagt Konrad. Denn eine solche Maßnahme mache unter Umständen die Therapie kaputt, das Vertrauen sei massiv erschüttert. Dennoch: „Wir können nicht alles geschehen lassen.“ Ein schwieriger Spagat, schließlich könne eine Fixierung den Patienten traumatisieren. Konrad ergänzt: „Wir versuchen, diese Maßnahme so lange es geht zu vermeiden, weil jede Fixierung im Grunde eine gescheiterte Behandlung ist. Es ist eine schwierige Situation für Patient und Therapeut gleichermaßen, weil es die Therapiebeziehung stört oder manchmal auch zerstört.“
Eine Fixierung diene einzig und allein der Abwehr eines noch größeren Schadens. Wenn sie doch nötig wird und der Patient zu einem Gespräch bereit ist, werde das Ereignis nachbesprochen. Das gilt auch für die betroffenen Diako-Mitarbeiter, also Ärzte und Pfleger. Diese haben zuvor im Team entschieden, ob eine Zwangsmaßnahme erforderlich ist, und sie sprechen auch anschließend darüber. Fragen dabei: Wie ist es zu dieser Situation gekommen? Wie ist die Fixierung abgelaufen? „Es geht dann darum, dem Erlebten Ausdruck zu verleihen. Letztendlich ist es das Ziel, besser zu werden“, schildert Abraham die Nachbearbeitung.
Mit am Tisch sitzt auch Dr. Heinrich Hahn, Leiter des sozialpädiatrischen Zentrums sowie Sprecher der Ethik-Kommission am Agaplesion Diakonieklinikum. Eine Zwangsmaßnahme, sagt er, sei nicht grundsätzlich ein Fall, der bei der Ethik-Kommission lande. Dennoch komme es vor, dass sich auch dieses Gremium damit zu befassen habe – bei sehr besonderen Fragestellungen, eher vor allem bei perspektivischen Fixierungen.
Das Team bespricht sich, der Arzt entscheidet
Die Fixierung als Zwangsmaßnahme: Eine Aufgabe, zu der die Mitarbeiter im Diako übrigens nicht gezwungen werden. Wer sich körperlich dazu nicht in der Lage sieht, muss ebenso wenig dabei sein wie ein Kollege, der sich aus innerer Überzeugung zurückzieht. Am häufigsten erfolgten Fixierungen im Notstand, also der Mitarbeiter springt einem in Gefahr geratenen Patienten oder einem in Gefahr geratenen Kollegen bei. In dieser Situation herrsche eine große Solidarität unter den Mitarbeitern, so Konrad. Diese Maßnahme werde vorab immer im Team abgestimmt und abgesprochen, auch wenn der verantwortliche Arzt die Entscheidung treffen muss.
Der Chefarzt der Psychiatrie fügt hinzu: „Wir legen bei einer solchen Maßnahme keine Cowboymentalität an den Tag. Es wird viel ausgehalten, wir reden zuerst und versuchen, zunächst andere Maßnahmen zu ergreifen.“ Eine Sedierung des Patienten könne im Vorfeld helfen, aber auch in diesem Fall muss der Patient zustimmen. Auch Isolation könne ein Mittel sein. Konrad: „Das kann ein Zimmergebot sein, aber auch ein Einschluss.“ Letzteres geht aber auch nur mit richterlicher Genehmigung.
Aber gibt es auch Fehler bei Behandlungen dieser Art? Konrad: „Situationen der Notwehr sind prinzipiell immer gefährlich, es kann immer zu Verletzungen kommen, sowohl bei Patienten als auch bei Mitarbeitern. Deswegen wird versucht, diese durch Deeskalation zu vermeiden. Uns ist kein Fall bekannt, bei dem wir einen Fehler begangen haben.“
Hoch emotional für alle Beteiligten
Eine Zwangsmaßnahme ist hoch emotional für alle Beteiligten, versichert Abraham. „Das ist etwas, was keiner wirklich möchte. Daher widmen wir uns den Fragen sehr intensiv im Rahmen der Deeskalation.“ Und dann geht es immer wieder auch um die von Konrad beschriebene Güterabwägung.
Vor diesem Hintergrund bezeichnet der Chefarzt die gesetzliche Grundlage als einen „guten Rahmen“. Diese Gesetze seien als Ausnahmeregelungen für Situationen geschaffen, in denen ein Mensch krankheitsbedingt nicht mehr dazu in der Lage ist, einen Willen zu bilden und zusätzlich ein weiteres Rechtsgut wie das Leben eines Menschen in Gefahr sei. Normalerweise komme ein Mensch mit einer Erkrankung mit diesen Ausnahmeregelungen gar nicht in Berührung. „Im Klinikum herrscht keine Willkür, der Wille des Patienten bestimmt die Behandlung. Mir ist wichtig, dass sich Menschen angstfrei in Behandlung begeben können.“
Und doch ist er mit den rechtlichen Voraussetzungen nicht uneingeschränkt zufrieden. Konrad: „Hilfen und Schutzmaßnahmen für psychisch Kranke sind gesetzlich Ländersache. Dieser unterschiedliche Rechtsrahmen ist aus meiner Sicht irritierend.“ Das mache die Lage unübersichtlich. Die Fälle aus Bayern und Baden-Württemberg, die derzeit vor dem Bundesverfassungsgericht verhandelt werden, seien daher auch nicht mit den Bedingungen in Niedersachsen vergleichbar, ist Konrad überzeugt.