Psychiatrische Herausforderungen der Corona-Krise: „Das ist ein großer Einschnitt“

Rotenburg - Die Corona-Pandemie hat uns alle fest im Griff. Die Folgen der Maßnahmen, die dazu dienen sollen, die Ausbreitung des Virus einzudämmen, sind massiv. Die Kontaktsperre und die Schließung der meisten Geschäfte legen weite Teile des für uns normalen Lebens lahm.
Wie Menschen mit dieser schwierigen Situation in der sozialen Isolation umgehen können, beantwortet Professor Carsten Konrad, Chefarzt des Zentrums für Psychosoziale Medizin am Agaplesion Diakonieklinikum Rotenburg.
Herr Konrad, inwieweit strahlt die Corona-Krise auf Ihre Arbeit aus?
Die Coronakrise stellt uns nahezu täglich vor neue Herausforderungen, weil viele Situationen sich neu ergeben. Wie jeder andere Bürger in Deutschland, müssen auch wir nahezu täglich auf neue Informationen, Verordnungen und Gesetze reagieren und diese auf die Situation im Zentrum für Psychosoziale Medizin anwenden. Daraus ergeben sich täglich neue Fragen, die wir klären und entscheiden müssen. Das zusätzlich zu unserer üblichen Arbeit, denn das Auftreten psychischer Erkrankungen wird durch so eine Krise auf jeden Fall nicht weniger.
Was macht eine solche Situation mit Menschen, die psychisch angeschlagen oder gar schwerer erkrankt sind?
Menschen, die schwer psychisch erkrankt sind, müssen in ihrem Leben oftmals ohnehin mit mehr Einschränkungen klarkommen als andere Menschen. Damit meine ich, dass sie oft weniger soziale Kontakte pflegen und weniger Aktivitäten nachgehen können. Wenn nun das, was sie sich mühsam aufgebaut oder bewahrt haben, noch besonderen Einschränkungen unterliegt, dann trifft sie die Situation umso härter.
Wir alle sind aufgefordert, möglichst zu Hause zu bleiben. Das ist vor allem dann nicht leicht, wenn Kinder im Spiel sind und die Wohnung verhältnismäßig klein ist. Mehr und mehr hört man von Fällen häuslicher Gewalt. Wie sehr werden Sie und Ihre Kollegen mit diesen Problemen konfrontiert?
Beobachtungen aus dem Ausland haben gezeigt, dass die häusliche Gewalt durch Ausgangsbeschränkungen ansteigt, beispielsweise ging kürzlich ein Bericht durch die Presse, dass eine chinesische Frauenrechtsorganisation einer Verdreifachung der Anrufe wegen häuslicher Gewalt verzeichnete. Im klinischen Betrieb der psychiatrischen Klinik in Rotenburg erleben wir derzeit keine großen Veränderungen durch diese Problematik. Das kann damit zusammenhängen, dass wir nicht die erste Anlaufstelle für Menschen sind, die häusliche Gewalt erleben. Wir kümmern uns um psychisch erkrankte Menschen und sollten aufpassen, den Begriff einer psychischen Erkrankung nicht zu sehr auszudehnen. Wer gesellschaftlich nicht akzeptables Verhalten zeigt, ist nicht automatisch psychisch krank und damit mehr oder weniger entschuldigt. Und nicht jedes Opfer häuslicher Gewalt wird zwangsläufig psychisch krank, auch wenn das Risiko erhöht ist.
Welche Tipps haben Sie für die Menschen, bei denen sich das Zuhausebleiben in diesen Tagen als ganz besonders schwer darstellt?
Ich halte es für eine weise Entscheidung, dass wir derzeit keine Ausgangssperre haben. Insofern kann ja zumindest jeder Erwachsene auch außerhalb der eigenen vier Wände spazieren gehen und frische Luft schnappen. Ist die Problematik ernsthafter, dann gibt es niederschwellige Kontaktangebote wie zum Beispiel die Telefonseelsorge unter der 0800 / 1110111, das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ des Familienministeriums unter 0800 / 0116016 oder das Opfer-Telefon des Weißen Rings unter 116006.
Viele Menschen mit psychischen Erkrankungen werden ambulant behandelt. Ist das nach wie vor gewährleistet?
Wir versuchen, die Anzahl und Intensität direkter Kontakte zu vermindern, ohne deswegen behandlungsbedürftige Patienten abzuweisen. Im Zweifelsfall gilt, dass die Not von Menschen mit psychischen Erkrankungen vorgeht. Derzeit können wir die ambulante Behandlung unserer Patienten sowie von Notfallpatienten gewährleisten.
Es ist zu hören, dass auch Psychiater und Psychologen zunehmend auf eine „Telebehandlung“ zurückgreifen. Welche Erfahrungen haben Sie und Ihre Kollegen damit?
Bei diesem Thema sind wir in unserem Zentrum weit vorne, denn wir haben schon 2018 die Genehmigung der Psychotherapeutenkammer Niedersachsen für ein Modellprojekt in der Online-Psychotherapie eingeholt und konnten inzwischen gute Erfahrungen damit sammeln. Psychologische Psychotherapien werden bei uns tatsächlich online angeboten. Auch für andere ambulante Anmeldungen haben wir seit einigen Jahren ohnehin ein telefonisches Screening beziehungsweise eine Triage vorgeschaltet. Bei psychiatrischen Patienten unserer Institutsambulanz, die seit Jahren regelmäßig kommen und die wir gut kennen, können wir für eine gewisse Zeit auf Telefonate umschwenken, man kennt sich ja gut. Für die Erstdiagnostik, den Ersteindruck oder Notfälle macht es meines Erachtens aber wenig Sinn, auf das persönliche Kennenlernen zu verzichten. Es ist nun mal unser Job, dass wir Menschen in psychischer Not persönlich kennenlernen müssen, bevor wir uns ein Urteil und einen Hilfsvorschlag zutrauen können. Dafür gibt es dann Hygienestandards und Abstandsregeln.
Versammlungen finden nicht mehr statt, damit auch keine Treffen von Selbsthilfegruppen. Wie groß ist dieser Verlust für alle, die mit schweren Problemen und/oder Krankheiten zu tun haben und für die diese Möglichkeit des Austauschs wegfällt?
Das stelle ich mir schon sehr schwer vor. Wobei man vieles durchaus auch in Telefonkonferenzen oder Videokonferenzen besprechen kann. Mein Vorschlag an die Selbsthilfegruppen wäre, es mal mit den Videokonferenzanbietern zu versuchen, die derzeit mit kostenlosen Probeabos werben, dann muss man zumindest nicht ganz auf den visuellen Kontakt verzichten.
Wie sehr haben Sie es zurzeit mit mehr Patienten zu tun – ambulant und auch stationär?
Im Zentrum für Psychosoziale Medizin haben wir durch die Corona-Krise momentan kein erhöhtes Patientenaufkommen gegenüber sonst zu verzeichnen. Wobei im Vergleich zu sonst bedeutet, dass unsere stationären Kapazitäten schon immer so nachgefragt waren, dass wir fast ständig eine stationäre Überbelegung zu verzeichnen haben. Ob sich dieses Problem bei Andauern der Krise verschärfen könnte, ist Spekulation, ich befürchte es etwas.
Wir alle erleben zurzeit eine Situation, die allen bislang fremd war. Unsere Freiheiten sind eingeschränkt, die Pandemie greift zunehmend um sich, wir können nicht mehr so arbeiten wie bisher, keine Freunde treffen, und wir alle müssen auf viele Dinge des gesellschaftlichen Lebens verzichten, die uns lieb sind. Was macht das mit uns?
Das ist schon ein großer Einschnitt in die üblichen Lebensgewohnheiten. Mein aktueller Eindruck ist, dass die Mehrheit der Menschen diese aufgezwungenen Einschränkungen ganz gut verkraftet und möglicherweise sogar zu nutzen weiß.
Wo liegen Chancen darin, sein eigenes Leben zu sortieren oder gar neu zu definieren?
Die Beschäftigung mit dieser Virusepidemie macht uns die Endlichkeit unseres Lebens ziemlich drastisch deutlich. Und dass das Sterben nicht besonders schön sein muss, sondern im Gegenteil auch ziemlich brutal und hässlich sein kann. Das weiß ich als Arzt natürlich, trotzdem rüttelt es mich auf. Und erinnert mich daran, dass ich mit dem bisschen Leben, das mir gegeben ist, gut haushalten sollte. Vieles erscheint mir aus dieser Perspektive gesehen als zu viel, zu schnell, zu hektisch. Mir helfen die aktuellen Einschränkungen, zu hinterfragen, ob das, was ich bisher als wichtig und notwendig erachtet habe, wirklich so relevant ist. Ob im Weglassen nicht ein Mehr an Lebensqualität steckt.
Wo ergeben sich aus der neuen Situation neue Probleme, mit denen wir klarkommen müssen?
Im Zentrum für Psychosoziale Medizin stehen wir jeden Tag vor ganz neuen Problemen, die wir lösen müssen. Und dann kommt wieder die Hektik ins System, die ich gerade hinterfragt habe, weil sie uns von den wirklich wichtigen Dingen abhält. Am vergangenen Montag erließ Gesundheitsministerin Reimann aus nachvollziehbaren Gründen einen Aufnahmestopp für Seniorenheime, am Dienstag konnten wir therapierte, inzwischen gesundete ältere Patienten ohne familiären Rückhalt nicht mehr in die geplante Senioreneinrichtung weiterverlegen. Ich glaube, dass es nicht Frau Reimanns Absicht ist, die psychiatrische Notfallversorgung zu blockieren. Aber unser Zentrum steht für die psychiatrische Notfallversorgung der Landkreise Rotenburg und Verden ein, wir müssen jetzt damit klarkommen und auf den verschiedensten Ebenen eine Lösung finden.
Inwieweit fühlen Sie selbst sich auch persönlich betroffen von dem, was uns in dieser Zeit abverlangt wird?
Ich spüre schon sehr deutlich die Verantwortung, einen großen Klinikbetrieb mit 24-Stunden Notfallversorgung für psychisch kranke Menschen funktionsfähig zu halten. Wir machen uns im Führungsteam des Zentrums für Psychosoziale Medizin sehr viele Gedanken über verschiedene Szenarien, die möglicherweise eintreten könnten, immer mit dem Ziel, unsere Mitarbeiter und unsere Patienten bestmöglich über die Krise zu bringen. Und das alles, während der Klinikbetrieb weiter läuft und unsere aktuellen Patienten die größtmögliche Aufmerksamkeit und bestmögliche Behandlung verdient haben.
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