Projekt gegen Entfremdung

Eine psychische Erkrankung ist immer eine große Herausforderung. Und das sowohl für den Betroffenen selbst als auch für seine Angehörigen. Manchmal hat dies auch eine Entfremdung zu den eigenen Kindern zur Folge. Um dem entgegenzuwirken, hat das Rotenburger Diakonieklinikum gemeinsam mit dem Bündnis gegen Depression ein neues Projekt gestartet.
Rotenburg – Der Verein „Bündnis gegen Depression im Landkreis Rotenburg“ hat sich unter anderem das Ziel gesetzt, die Situation von Menschen mit psychischen Erkrankungen im Alltag zu verbessern. Dazu gehört auch das Verhältnis von Eltern zu ihren Kindern. Denn das leidet der Erfahrung nach oft darunter, wenn sich ein Elternteil zum Beispiel in stationäre Behandlung begibt. Eine Entfremdung ist die Folge, die durch Corona noch einmal besonders stark geworden sei, weiß Carsten Konrad, Chefarzt im Zentrum für Psychosoziale Medizin im Diakonieklinikum Rotenburg und Vorsitzender des Bündnisses. Daher hat dieses in Kooperation mit dem Diakonieklinikum, das die Räumlichkeiten zur Verfügung stellt, das Projekt „Gemeinsam Neues schaffen“ ins Leben gerufen.
Zwei Mal im Monat treffen sich Eltern und ihre Kinder in diesem geschützten Rahmen und werden von Fachkräften für Ergotherapie aus dem Zentrum für Psychosoziale Medizin begleitet und unterstützt. Es geht darum, ein Angebot und eine Anlaufstelle für Familien zu schaffen, in denen bedingt durch den stationären Aufenthalt eines Elternteils die Bindung anders geworden ist. Häufig gehen der Erfahrung von Psychologe Klaus Henner Spierling, den Ergotherapeutinnen Marlene Häfner und Annett Lenz, Hausärztin Christiane Qualmann, Vorstandsmitglied im Bündnis gegen Depression, sowie Konrad nach mit der Erkrankung Entfremdung, Distanz, aber auch große Verunsicherung einher.
Es ist ein individueller Prozess, der sich sehr unterschiedlich gestalten kann. Dynamisch, sagt Spierling. Kinder sind feinfühlig und merken schnell, wenn es den Eltern nicht gut geht. Diese ihrerseits wissen oft nicht, wie sie ihrem Nachwuchs erklären können, was gerade mit und in ihnen passiert – und fühlen sich schuldig, wenn sie zum Beispiel durch einen stationären Aufenthalt ein Teil des Aufwachsens ihres Kindes verpassen.
Auch Kinder kennen dieses Gefühl, fühlen sich manchmal mitschuldig an dem, was mit den Eltern passiert. Sie sind in einer ständigen Beobachtungshaltung, nennt es Spierling. Sie werden oftmals unbewusst in neue Rollen gedrängt, übernehmen zu früh zu viel Verantwortung. Sie sind verunsichert, verwirrt, erleben die Situation mitunter auch als bedrohlich.
So ist die Idee entstanden, etwas gegen diese Distanz innerhalb der Familie zu unternehmen, sagt Konrad. „Statt Entfremden gemeinsames Erleben.“ Es soll kein Forum sein, keine reine Gesprächsrunde. Eltern sollen gemeinsam mit ihren Kindern etwas machen. So hat eine Mutter zuletzt mit ihrem Einschulungskind einen Schreibtischstuhl gestaltet, „das war großartig“, meint Lenz.
Teilnahme an der Gruppe
Die Gruppe ist vorrangig mit dem Ziel gegründet worden, Familien zu helfen, in denen ein betroffenes Elternteil stationär behandelt wird, um der Entfremdung dadurch entgegenzuwirken. Das Angebot findet an jedem ersten und dritten Montag im Monat von 16 bis 18.30 Uhr in den Räumen der Ergotherapie auf dem Klinikgelände statt. Die Teilnahme ist für die Familien kostenfrei. Das Angebot wird durch den Landkreis Rotenburg finanziert, das Diakonieklinikum stellt die Räume zur Verfügung. Wer gerne dabei sein möchte, schreibt eine E-Mail mit seiner Telefonnummer an ergoprojekt@diako-online.de und erhält so einen Kennenlerntermin.
Die gemeinsame Zeit soll Spaß machen, Leichtigkeit bringen. „Das ist positiv für den Heilungsprozess“, sagt Qualmann. Für die Kinder soll die Erkrankung nicht im Mittelpunkt stehen. „Sie erleben ihre Eltern, die eine Krise haben, in einer Situation, in der sie etwas Schönes gemeinsam machen“, sagt Konrad. Das bringt Ruhe, schafft Erleichterung für die Eltern, die damit nicht alleine sind und wissen, dass sie ihre Kinder alle zwei Wochen sehen.
In der Gruppe sind sie unter Gleichgesinnten, was ihnen hilft. Gleichzeitig werden sie von erfahrenen Fachkäfte begleitet und angeleitet. „Es ist keine Therapie“, betont Spierling. „Aber es hat therapeutische Effekte.“
Derzeit gibt es viele Angebote, die bei unterschiedlichsten Erkrankungen unterstützend einwirken können. Sei es die neue Eltern-Kind-Gruppe für Eltern mit psychischen Erkrankungen des Familienforums Simbav, ein Angebot von Mutterhaus und der Zentralen Informationsstelle Selbsthilfe Selbsthilfekontaktstelle im Landkreis Rotenburg (ZISS) für Familien, in denen Krebs-Erkrankungen den Alltag durcheinanderwürfeln, oder jetzt das „Gemeinsam Neues schaffen“. Ressourcen werden gebündelt, um breitflächig und niederschwellig helfen zu können. Zum einen ist der Hintergrund, dass es für solche Angebote gerade schlicht die finanziellen Mittel durch verschiedene Förderungen gibt. So wird „Gemeinsam Neues schaffen“ beispielsweise durch den Landkreis Rotenburg gefördert.
Zum anderen hat die Corona-Pandemie deutlich gemacht, an welchen Stellen Bedarf besteht – oder wo dieser noch größer geworden ist. „Sie hat die Herausforderungen nochmal deutlicher gemacht“, sagt Lenz – und für manche ihre Situation nochmal verschlechtert. Viele Familien fühlen sich dabei alleine, sind aber auch gehemmt, das Thema anzusprechen oder sich Unterstützung zu holen. Das Angebot soll der Isolation und Stigmatisierung entgegenwirken. Der Rahmen kann bei Bedarf vergrößert werden, wenn zum Beispiel Großeltern teilnehmen möchten.