„Antidepressiva sind kein Teufelszeug“

Rotenburg - Von Jessica Tisemann. Morgens auf dem Weg zur Arbeit ist es dunkel, und auch auf dem Rückweg ist es schon wieder finster. Kein Wunder, dass Menschen da die Lust verlieren. Doch nicht immer steckt hinter Unlust gleich eine Depression. Professor Carsten Konrad aus dem Rotenburger Diakonieklinikum erklärt die Symptome der Krankheit und schlägt vor, wie man seinen Angehörigen helfen kann.
Was umfasst das Krankheitsbild Depression?
Prof. Carsten Konrad: Wenn verschiedene Symptome zusammenkommen, spricht man von einem depressiven Syndrom. Das Hauptsymptom, das eine Depression mit sich bringt, ist vor allem die gedrückte Stimmung. Dazu kommt, dass Menschen in einer depressiven Episode Glücksgefühle nicht mehr empfinden können. Das kann bis zu einem „Gefühl der Gefühllosigkeit“ gehen. Dazu kommt, dass man auch keine Freude mehr an Dingen hat, die normalerweise Spaß gemacht haben. Und eine starke Erschöpfung. Das, was wir normalerweise leisten, schafft ein Mensch in der depressiven Episode nicht. Das ist für die Umwelt oft nicht nachvollziehbar, warum jemand, der sonst immer alles gekonnt hat, plötzlich schon Schwierigkeiten hat, seinen Vormittag zu gestalten und lieber ins Bett gehen möchte.
Gibt es weitere Symptome?
Prof. Konrad: Sehr häufig sind Schlafstörungen, insbesondere frühmorgendliches Erwachen und Gedanken, wie der folgende Tag bewältigt werden kann. Menschen erleben die Krankheit häufig auch als körperliche Beschwerden, also dass verstärkt Magen- oder Kopfschmerzen auftreten, aber auch innere Unruhe und andere körperliche Symptome. Bei einigen Menschen äußert sich die Depression über einen Konzentrationsverlust oder Gedächtnisstörungen. Manche Patienten kommen mit der Frage, ob sie eine Demenz entwickeln könnten. Wir nennen das dann „depressive Pseudodemenz“. Außerdem kann es passieren, dass Menschen in Grübelschleifen geraten oder Schuldgefühle entwickeln. Manchmal steigert sich das zu einem depressiven Wahn. Ein weiteres Symptom ist die Entwicklung von lebensmüden Gedanken. Die beiden letztgenannten Symptome sind Warnsymptome, die anzeigen, dass eine Therapie nicht mehr warten kann.
Ist eine Heilung möglich?
Prof. Konrad: Depression ist eine behandelbare Erkrankung. Sie verläuft in Episoden und eine Episode hat auch ein Ende. Knapp 9 Prozent der Männer und circa 18 Prozent der Frauen haben einmal in ihrem Leben eine depressive Episode. Diese Menschen bleiben ja nicht alle ihr Leben lang krank, sondern irgendwann ist die Episode vorbei und es kommt oft keine weitere. Es gibt bestimmte Risikofaktoren, die dazu führen können, dass Rückfälle auftreten, und deswegen besteht die Behandlung auch aus zwei Phasen: der Akutbehandlung und dem Rückfallschutz.
Kann ich selbst erkennen, wenn ich an einer Depression erkranke?
Prof. Konrad: Ja, Veränderungen an sich selbst merken Patienten häufig. Vor allem den Energieverlust und die zunehmende Freudlosigkeit. Aber auch das morgendliche Früherwachen. Es ist sehr typisch, dass depressive Menschen morgens gegen 2 oder 3 Uhr aufwachen, grübelnd im Bett liegen und nicht mehr einschlafen können.
Jeder hat mal Phasen, in denen man keine Lust hat, etwas zu machen, deswegen ist aber nicht jeder gleich depressiv, oder?
Prof. Konrad: Nein. Ich wehre mich auch dagegen, dass der Krankheitsbegriff inflationär für alle verwendet wird, die erschöpft sind. Erschöpfung ist prinzipiell etwas Gutes, sie signalisiert uns, dass wir Ruhe brauchen. Dass man mal eine Phase hat, in der man nicht glücklich ist, ist keine Erkrankung. Es ist auch nicht die Aufgabe der Psychiatrie, alle Menschen glücklich zu machen. Wenn es aber aus heiterem Himmel kommt und charakteristische depressive Symptome zusammenkommen, wird es kritisch.
Kann sich der Patient selbst aus diesem Strudel herausziehen?
Prof. Konrad: Zum Teil ja, wenn man erkannt hat, welche Belastungen es sind, die dazu geführt haben, kann man versuchen, die zu verändern. Man kann auch prophylaktisch durch eine gesunde Lebensführung einiges von sich abhalten. Zum Beispiel weiß man, dass mindestens drei mal 30 Minuten Ausdauersport in der Woche vor psychischen Erkrankungen schützt. Wenn die depressiven Gedanken und Gefühle aber eine gewisse Intensität annehmen, sollte man sich in Behandlung begeben. Wobei ich sagen muss, dass die erste Anlaufstelle der Hausarzt und nicht der Facharzt sein sollte.
Wenn ich merke, Angehörige oder Freunde haben eine depressive Phase, wie kann ich ihnen helfen?
Prof. Konrad: Durch Ansprechen. Seine Beobachtung mitteilen. „Ich finde, du wirkst seit einigen Wochen verändert.“ Auf jeden Fall, sollte man es nicht ignorieren. Die Menschen sind meistens dankbar, dass sie jemand darauf anspricht.
Also besteht nicht die Gefahr, dass sie sich gleich verschließen?
Prof. Konrad: Das kommt darauf an, wie die Menschen aufgewachsen sind. Wenn sie gelernt haben, „ich muss immer gute Miene zum bösen Spiel machen“, ist es schwierig, sie zu bewegen, zuzugeben, dass es ihnen schlecht geht. Aber das ist eher eine Minderheit, die meisten Menschen freuen sich, wenn jemand ihre Gefühlslage erkennt.
Ist denn jeder in der Lage, die Krankheit zu erkennen?
Prof. Konrad: Wenn jemand depressiv wird, merkt das die Umwelt meistens. Mein Rat wäre, es als Ich-Botschaft zu formulieren, „Ich bemerke, dass…“. Wenn man sagt „Du siehst schon wieder so traurig aus“ könnte das auch als Vorwurf verstanden werden.
Spielt die dunkle Jahreszeit auch eine Rolle?
Prof. Konrad: Nur bei einer Sonderform der Erkrankung – der sogenannten saisonalen Depression. Es gibt Unterformen der Depression, die immer wieder zur gleichen Jahreszeit auftreten. Das muss nicht der Herbst sein, ist es aber oft. Die Unterscheidung ist insofern von Bedeutung, als dabei die Lichttherapie wirksam ist. Zweimal täglich für 30 Minuten in helles weißes Licht gucken, hat dabei einen therapeutischen Effekt.
Inwieweit unterscheidet sich diese Form von einer klassischen Depression?
Prof. Konrad: Von den Symptomen nicht, charakteristisch ist der Rhythmus des Auftretens.
Gibt es Unterschiede zwischen Männern und Frauen bei der Krankheit?
Prof. Konrad: Ja. Das auffällige ist, dass Frauen doppelt so häufig davon betroffen sind wie Männer. Männer sind außerdem eher dazu erzogen, nicht über Gefühle zu sprechen. Manche können gar nicht beschreiben, was gerade in ihnen vorgeht. Frauen haben besser gelernt, über Gefühle zu sprechen. Es ist auch häufiger, dass Männer nicht gerne therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen. Depression kann jeden treffen, das ist keine Schwäche.
Sind Altersunterschiede bekannt?
Prof. Konrad: Ja. Der erste Gipfel ist im mittleren Alter zwischen 20 und 29 Jahren und der zweite, wenn die Menschen älter werden, zwischen 50 und 59 Jahren. Das sind auch die etwas gefährlicheren Erkrankungen, wenn ältere, einsame Menschen depressiv werden.
Gibt es immer Auslöser?
Prof. Konrad: Das ist nicht immer klar erkennbar. Jeder von uns kann unterschiedlich viele Schicksalsschläge verkraften, bis die Schwelle zu einer psychischen Erkrankung überschritten ist. Es gibt aber auch Depressionen – früher wurden diese endogene Depressionen genannt – da geht man davon aus, dass es einen hohen genetischen Anteil gibt, warum diese auftreten. Diese überraschen die Patienten scheinbar aus dem Nichts.
Ist die Krankheit also vererbbar?
Prof. Konrad: Ja, das Risiko ist vererbbar.
Wie wirken sich zusätzliche Schicksalsschläge während einer Depression auf den Patienten aus?
Prof. Konrad: Negativ.
Kann das zu einer Überreaktion führen?
Prof. Konrad: Jede Verschlechterung des Krankheitsverlaufs kann die Symptome noch verstärken. Wir können in der Therapie auch nicht nur den Patienten betrachten, sondern müssen sein soziales Umfeld dazuholen.
Apropos Therapie. Welche Behandlungen gibt es?
Prof. Konrad: Es gibt grundsätzlich Psychotherapie, Pharmakotherapie sowie psychosoziale Therapien. Psychotherapie ist momentan relativ schwer erhältlich, im ambulanten Bereich existieren häufig Wartezeiten von bis zu einem halben Jahr. Die Pharmakotherapie ist schneller verfügbar. Viele Menschen haben aber Angst davor. Es gibt Vorurteile, dass Antidepressiva abhängig machen und die Persönlichkeit verändern. Das stimmt aber nicht, Antidepressiva machen weder abhängig noch verändern sie die Persönlichkeit, sondern sie behandeln die depressiven Symptome. So eine Therapie endet auch. Man muss also keine Angst haben, dass man sein Leben lang Medikamente nehmen muss. Es gibt zwar wenige Menschen, bei denen ist das so, die haben aber ein ganz großes Rückfallrisiko. Gerade wenn die Depression schwerer fortgeschritten ist und eine (teil)-stationäre Behandlung nötig ist, sind auch Therapiemaßnahmen wie Physio-, Ergo-, und andere psychosoziale Therapien nötig.
Antidepressiva machen also nicht abhängig?
Prof. Konrad: Genau. Es gibt kein Abhängigkeitsrisiko. Antidepressiva sind kein Teufelszeug.
Warum sind Antidepressiva dann so verteufelt?
Prof. Konrad: Aus Unkenntnis. Und aus schlechten Psychiatriefilmen. (lacht)
Verschreiben einige Ärzte aber vielleicht dennoch zu schnell Antidepressiva?
Prof. Konrad: Ich glaube schon, dass insgesamt die Schwelle ein wenig niedrig liegt. Was ich aber noch viel schlimmer finde, ist das Nicht-Absetzen. Dafür muss man die Leitlinien kennen und entscheiden, wann das Risiko eines Absetzens vertretbar ist.
Was ist in diesen Leitlinien festgelegt?
Prof. Konrad: Das staffelt sich nach Anzahl der Episoden. Nach der ersten depressiven Episode wird ein Rückfallschutz für vier bis neun Monate empfohlen, nach der zweiten Episode sind es schon zwei Jahre.
Und die Medikamente machen genau was?
Prof. Konrad: Da gibt es viele Hypothesen. Die gängigste ist, dass sie den Serotonin- und/oder Noradrenalinspiegel für die synaptische Übertragung anheben.
Das heißt, der Patient wird glücklicher?
Prof. Konrad: Ja. Sie haben die Fähigkeit, wieder glücklicher zu sein, sind aber nicht ständig „high“. Die Patienten haben wieder das gesamte Gefühlsspektrum zur Verfügung. Sie können auch mit Antidepressiva traurig sein. Aber das Abschneiden der guten Gefühle durch die Erkrankung wird behoben.
Was halten Sie von alternativer Medizin?
Prof. Konrad: Ich behandele Patienten gerne mit Verfahren, die bewiesenermaßen dem Patienten helfen. Von den alternativen Verfahren ist nichts bewiesen. Wenn jemand etwas einnimmt, was nicht bewiesen ist, ist das nicht schlimm, wenn es ihm nicht schadet. Das Problem ist, dass er glaubt, etwas für seine Gesundheit zu tun und deswegen andere Therapiemaßnahmen zurückstellt. Da fang ich doch lieber mit den bewiesenen Methoden an.
Professor Carsten Konrad ist 46 Jahre alt und lebt mit seiner Frau und seinen zwei Töchtern in Rotenburg. Geboren ist er in Osnabrück. Nach seinem Studium in Münster war er zuletzt als leitender Oberarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Philipps-Universität Marburg tätig. Seit Januar 2015 ist er Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Diakonieklinikum.