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Ukrainische Familie mit Behinderung sucht Wohnung jenseits der Notunterkunft

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Von: Ulla Heyne

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Von ehrenamtlichen Deutschstunden bis zur Beratung im Behördendeschungel: Ursula Meyer hilft Olga Kraftsova beim Ausfüllen von Formularen.
Von ehrenamtlichen Deutschstunden bis zur Beratung im Behördendeschungel: Ursula Meyer hilft Olga Kraftsova beim Ausfüllen von Formularen. © Heyne

Seit ihrer Flucht aus der Ukraine lebt Olga Kraftsova nebst Bruder und Mutter in einer kommunalen Notunterkunft in Helvesiek. Das Problem dabei: Die 42-Jährige sitzt im Rollstuhl, auch der Bruder hat ein körperliches Handicap.

Helvesiek – Olga Kraftsova, die am Esstisch einer Helvesieker Wohnung sitzt, war einmal eine unabhängige Frau: Sie betrieb Wettkampfsport – Schwimmen, Schießen, Langstreckenrennen –, engagierte sich für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, arbeitete als Buchhalterin. Und sie hatte eine eigene, auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Wohnung. Bis zum Angriffskrieg Russlands stand die Ukrainerin auf eigenen Füßen – allerdings nur bildlich gesprochen. Denn die 42-Jährige sitzt im Rollstuhl.

Der Angriff auf ihre Heimatstadt Charkiw 2022, er sollte alles ändern. Tagelang verbrachte sie mit Mutter Nina und Bruder Konstantin in der Wohnung, der Luftschutzbunker war für die Drei wegen des Rollstuhls nicht erreichbar. Bombeneinschläge als ständige Geräuschkulisse, kein Wasser, Heizung noch Strom – „die Flucht, das war keine Entscheidung, sondern eine Notwendigkeit – ich wollte leben!“ Mit dem Zug ging es erst nach Lwiw, dann nach Polen. Das sei einerseits gut gewesen – der Liegewagen ermöglichte dem ebenfalls körperbehinderten Bruder einen schmerzfreien Transport, „andererseits waren zehn Stunden ohne Toilette grenzwertig“.

Ihre Fluchtgeschichte erzählen Kraftsova und ihr Bruder in einer Mischung aus Deutsch und Englisch – Mutter Nina, 73, hat sich mit Migräne zurückgezogen, wie so oft. Seit einer Aneurysma-Operation vor zehn Jahren kann sich die Witwe nicht mehr so um ihre Kinder kümmern, wie sie es gern würde und es mangels anderer Hilfe geboten wäre. Beide Kinder kamen Anfang der 1980er-Jahre scheinbar gesund zur Welt – dass die Tätigkeit des Vaters, Soldat im Dienste der sowjetischen Armee und „Seemann am Ufer beim Graben von Raketenbasis“, wie es Konstantins Übersetzungs-App ausspuckt, nach einer Explosion auf einem ehemaligen Raketenstützpunkt in Peenemünde etwas mit radioaktiver Strahlung und ihrem Gendefekt zu tun haben könnte, rückte erst nach dem Super-Gau von Tschernobyl in den Bereich des Denkbaren. Im Gegensatz zu vielen Kameraden im Einsatz bei der ehemaligen Heeresversuchsanstalt für Raketenversuche im Zweiten Weltkrieg, die im Verlauf der nächsten Jahre nach dem von offizieller Seite nie offiziell bestätigten Einsatz starben, überlebte der Vater, allerdings gesundheitlich angeschlagen. „Ihm fielen die Haare und Zähne aus“, erinnert sich die Tochter. Die Frau mit den wachen Augen und dem furiosen Denglisch-Mix erzählt pragmatisch, um Mitleid geht es ihr nicht.

Ursula Meyer, die ebenfalls mit am Tisch sitzt, nennt sie ihre „beste Schülerin“. Nachdem sich die pensionierte Lehrerin aus Fintel bereits ab 2016 um syrische Flüchtlinge gekümmert hatte, bot sie erneut der Gemeinde Sprachunterricht an und wurde an die Familie Kravtsova vermittelt, die aufgrund des Transportproblems der behinderten Geschwister und ihrer Mutter keine Deutschkurse besuchen kann. Über eine Facebook-Hilfsgruppe waren die drei aus dem polnischen Auffanglager von ehrenamtlichen Unterstützern aus Dresden nach Deutschland gebracht worden, im Wohnmobil, in dem Kostjas, wie ihn Mutter und Schwester nennen, liegen konnte – Sitzen und Stehen ist dem Mann an den Unterarmgehstützen aufgrund einer Wirbeldeformation höchstens eine Stunde am Stück möglich. Über eine weitere Facebook-Gruppe „Equitrans“, die sich um Flüchtlinge mit Tieren kümmert, kamen sie zunächst in die Nähe von Stemmen. Denn: Bei der Flucht hatte Olga Kraftsova zwar ihren Elektro-Rollstuhl zurücklassen müssen („Mit 15 Kilo war er einfach zu schwer“), nicht aber ihre Katze, für die Ukrainerin Familienmitglied und Halt.

Bei manchen Fachbegriffen hilft nur eine Übersetzungs-App weiter.
Bei manchen Fachbegriffen hilft nur eine Übersetzungs-App weiter. © -

Der wegen der diversen Behinderungen herausfordernde Aufenthalt der Gäste, er wurde der ebenfalls gesundheitlich eingeschränkten Gastgeberin irgendwann zu viel. So kam es, dass sich die Kravtsovas einige Tage vor Weihnachten unvermittelt in eine Notunterkunft der Samtgemeinde Fintel in Helvesiek umziehen mussten, wo sie mit Ursula Meyer in Kontakt kamen.

Die Blumen auf dem Wohnzimmertisch der tadellos sauber gehaltenen Wohnung können nicht darüber hinwegtäuschen: Die Notunterkunft, in der ein Aufenthalt von maximal sechs Monaten vorgesehen ist, ist nicht optimal. Zwar ist sie barrierefrei, aber Telefon, Fernsehen oder Radio (laut Meyer essenziell für den Spracherwerb): Fehlanzeige. Ihrem Drang, endlich die Sprache zu erlernen, sich zu integrieren und nützlich zu machen, kann die 42-Jährige nicht nachkommen: Die Bürgerbusse als einziges öffentliches Transportmittel zu den Ärzten, Supermärkten, zur Bank oder dem Flüchtlingscafé in Scheeßel fahren oft hin, aber zu bald zurück. „Wenn ich telefonieren will, muss ich an die Straße“, beschreibt die Rollifahrerin das schlechte Mobilfunknetz. So landen Anrufe von Behörden oder der Krankenkasse verstärkt bei Meyer – die eigentlich nur etwas Sprachunterricht geben wollte. Halbe Tage verbringt sie derzeit mit dem Kampf gegen den Behördendschungel, oft erhalte sie von den unterschiedlichen Stellen „diametrale Antworten“, zuständig sei niemand. Auch die pensionierte Studienrätin ist oft am Ende ihres Lateins und ihrer Kräfte. Am liebsten würde sie oft hinschmeißen – „aber nicht zu helfen und denen, die keine Chance haben, sich zurechtzufinden, das ist keine Option.“ Auf ihre Brandrede beim Neujahrsempfang der Kirchengemeinde Fintel, wo sie darum bat, die Hilfe für die Familie auf mehrere Schultern zu verteilen, blieb erfolglos.

Das vordringlichste Problem, jenseits der zu organisierenden Fahrten zu Behörden, Ärzten, der Tafel und zum Supermarkt, bleibt die Wohnsituation. Olga Kraftsova hat Angst vor dem, was nach sechs Monaten kommt. Täglich surft sie, so sie Internet von der Mitbewohnerin der Notunterkunft bekommt, auf ebay-Kleinanzeigen, Immobilienscout und anderen einschlägigen Portalen, allein: „Eine barrierefreie Wohnung mit Tierhaltung und nicht zu weit ab vom Schuss, sodass der Weg zum Supermarkt möglich ist – das wäre wie ein Sechser im Lotto!“ Auch Meyer hat schon alle erdenklichen Quellen angezapft – Awo, DRK, Rotenburger Werke. Doch die Konstellation einer gebrechlichen Mutter und zwei pflegebedürftigen Kindern, die bei alltäglichen Aufgaben wie dem Ziehen von Kontoauszügen, dem Einkauf (die Mutter hat Gleichgewichtsprobleme, kann nicht ohne Begleitung los) oder Busfahren (wer hebt Olga aus dem Rolli in den Sitz, damit der Anschnallpflicht genüge getan ist?) aufeinander angewiesen sind, ist schwer zu vermitteln. Trotzdem gibt sie die Hoffnung nicht auf – auf eine eigene Wohnung, weitere Unterstützung beim Kampf mit den Behörden und einem eigenen Leben.

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