Harpstedt - Von Jürgen Bohlken· Sie besingt den Trennungsschmerz und die Vergänglichkeit des Glücks, taucht in „Satt lieben“ in die Gefühlswelt einer Mutter ein und beschreibt in „Healing Waters“ die „heilende“ Wirkung der Tränen.
Die grauen Zellen arbeiten beim Zuhören, wenn Christina Lux philosophische, oft hintergründige und bisweilen herrlich skurrile Gedanken in Worte mit Tiefgang und Verse voller poetischer Bilder fasst. „Es gibt Menschen, die sagen, ich würde zu viel grübeln. In Wahrheit ist es noch schlimmer“, gesteht sie vor knapp 60 Konzertgängern ein, die ihr im „Alten Pfarrhaus“ in Harpstedt an den Lippen hängen.
„Wer kennt mich?“, fragt sie eingangs, und nur wenige Hände schnellen in die Höhe. 135 Minuten später, nach Ende eines „luxuriösen“ Abends mit zwei Zugaben, der Lust auf mehr macht, darf sich Christina Lux sicher sein, neue Fans hinzugewonnen zu haben.
Schnell kommt die charismatische Storytellerin zusammen mit ihrer Gitarre „in Stimmung“. Sie haucht lyrische Vocals zärtlich-sinnlich ins Mikro, schmeichelt dem Ohr mit ihrer warmen Stimmfarbe und explodiert im nächsten Moment unvermittelt in nach vorn preschenden Grooves. Ihre stilübergreifende Musik steckt voller Überraschungen. Da folgt der leisen „Ouvertüre“ mit Anleihen an Folk und Blues eine unerwartete Wendung zu treibendem Soul. Ein eingängiger Refrain mündet in eine unkonventionelle Bridge, ein englischer Text urplötzlich in einen deutschen. Und immer wieder würzt die „Grenzgängerin“ ihren Gesang mit Vokalakrobatik. Die sich in die Gehörgänge jazzende Stimme wird zum Rhythmusinstrument – und die akzentuierte Begleitung auf der elektrisch verstärkten Akustikgitarre in solchen Momenten fast zur Nebensache.
Mit Leidenschaft gesungene Balladen wie „Are you somebody“ und „Arms wide open“ erinnern an die kraftvollen Songs von Melissa Etheridge, der Lux hier und da sogar stimmlich nahe kommt. Zwischen den Liedern plaudert die 44-jährige Mutter einer volljährigen Tochter über Gott und die Welt. Sie sinniert über „positive“ und „ganz schräge Macht“ und animiert mit einer Geschichte über ein Autobahnraststättenklo als „Oase“ zum Schmunzeln. Überhaupt bleibt der Humor nicht auf der Strecke: „Was ist ein Musiker, wenn er keine Freundin hat?“, kündigt sich ein Witz an. Antwort: „Obdachlos!“
Die Poetin outet sich als Verehrerin des – 2005 verstorbenen – Christopher Paul Jones, eines, wie sie findet, tollen Gitarristen, Sängers und Songschreibers. Als sie selbst mit ihm vor vielen Jahren zusammenarbeitete, lernte sie auch die andere Seite kennen, den „typischen Amerikaner“, die laute Frohnatur mit Baseballkappe, „der man ansah, dass sie mit ihm oft auf Tour war“. Ein aus dieser Kooperation geborenes Stück, „Shelter“, erklingt – und fügt den vielen Gänsehautmomenten im Konzert einen weiteren hinzu. „Love ist my religion“, Liebe ist meine Religion, bekennt die gebürtige Karlsruherin musikalisch. In der Anmoderation dieses Liedes geht sie mit der Kirche hart ins Gericht, und das – mutig, mutig (!) – in einem Pfarrhaus. Sie entlarvt jene Jesuiten, die wegen des vor Jahrzehnten verübten vielfachen Missbrauchs an Jugendlichen momentan unter Beschuss stehen, als Heuchler, zumal die Täter doch den Anspruch hätten, „Gott am nächsten“ zu sein. Manchmal, so verrät die Alltagsphilosophin, gehe sie selbst in „das Gebäude mit den bunten Fenstern“. Während ein Geistlicher von der Kanzel predige, denke sie: „Ganz hinten könnte auch jemand mit Hörnern sitzen. Und es ist nicht Wicky, der Wikinger!“ In der Ex-US-Vizepräsidentschaftskandidatin Sarah Palin sieht sie ein Beispiel für missbrauchte Macht, gehöre die Republikanerin doch allen Ernstes einer homosexuellenfeindlichen Kirche mit dem Namen „Pray away the gay“ an. Es sei an der Zeit für ein Bibel-Update, sagt Christina Lux und erntet vorsichtig zustimmendes Nicken. „Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit“, lautet eine andere ihrer persönlichen Lebensweisheiten.
Selbst ein unfreiwillig komischer Verhaspler wie „Bevor ich nach diesem Stück ‘ne Pause mache, spiele ich noch das Stück“ kommt sympathisch rüber. Mühelos gelingt es der Ausnahmemusikerin, die Zuhörer in „Ooohs“ und „Yeahs“ einstimmen zu lassen.
Der Song „Haut“ macht Appetit auf das kommende – gleichnamige – Album. Vor der ersten Zugabe flachst Christina Lux: „Ihr klingt wie tausend Mann!“ Das letzte Stück, angeblich „das ultimative Schlaflied“, will indes seine einschläfernde Wirkung partout nicht entfalten. „Es war ein Fest, hier zu sein“, resümiert die Sängerin und Gitarristin gegen Ende des lauschigen Abends im Rahmen der Konzertreihe „Gitarre total“ des Kunst- und Kulturvereins (KuK) und der Agentur Artistainment. Dem haben die Fans nichts hinzuzufügen.