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Polizist Willi Claassen erinnert sich an Olympia-Einsatz 1972

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Willi Claassen hat seine Uniform, die er 1972 bei den Olympischen Spielen in München bekam, dem Polizeimuseum in Nienburg vermacht.
Willi Claassen hat seine Uniform, die er 1972 bei den Olympischen Spielen in München bekam, dem Polizeimuseum in Nienburg vermacht. © Kreykenbohm

Nienburg - Von Julia Kreykenbohm. Der 38-jährige Polizeiobermeister sitzt im Auto und fährt in die Münchner Innenstadt. Er hat gerade seine Schicht als Mitarbeiter des Ordnungsdienstes bei den Olympischen Spielen beendet und freut sich nun auf ein Treffen mit seiner Frau, die die Großveranstaltung als Mitarbeiterin des NDR begleitet.

Willi Claassen kommt aus Hannover und ist einer von etwa 4000 Polizisten, die aus ganz Deutschland nach Bayern abkommandiert wurden, um die Kollegen in München zu unterstützen. Es ist das Jahr 1972.

Da kommt die Nachricht aus dem Radio, dass palästinensische Terroristen in das Olympische Dorf eingedrungen sind und das Team aus Israel als Geisel genommen haben. Der Schock fährt Claassen in die Glieder. Die Gedanken rasen: Nun ist der Terror, der bislang hauptsächlich durch die erste Generation der RAF verübt wurde und in München weit weg schien, also doch gekommen.

Vor den Spielen: das große Glück eingesetzt zu werden

Sofort kehrt der Familienvater zurück in seine Unterkunft, wo seine Kollegen zusammensitzen. Die Order der Vorgesetzten: Keiner verlässt die Kaserne, bis die Gefahr gebannt ist. Die Stimmung ist angespannt. Doch noch haben die Beamten Hoffnung, dass alles gut ausgeht und die „heiteren Spiele“ weitergehen können. Keiner ahnt, dass am nächsten Tag nichts mehr wie vorher sein wird. Dabei hat alles so schön begonnen.

Claassen, der heute 83 Jahre alt ist, erinnert sich, wie er sich damals freute, als er erfuhr, dass er nach München gesandt wird. „Ich war begeisterter Sportler, da war das natürlich eine super Sache.“ So reist er im August 1972 nach Bayern. Als Mitglied des Ordnungsdienstes bekommt er eine neue Uniform in leuchtendem Hellblau überreicht, extra für die Spiele entworfen. Sie soll den fröhlichen Geist der Veranstaltung widerspiegeln – und das tut sie auch. „Was seid ihr schick!“, sagen die Münchner zu Claassen und seinen Kollegen.

Wörterbuch statt Waffe

Überhaupt werden sie sehr herzlich aufgenommen. Die Organisation ist vorzüglich. Der Ordnungsdienst kommt in der Bayern-Kaserne unter und erhält – auf Nachfrage – sogar einen Farbfernseher. Der Präsident des Organisationskomitees Willi Daume schaut vorbei und bemerkt: „Sie machen alle fröhliche Gesichter, Sie scheinen keine Sorgen zu haben.“

Zwei Tage lang werden die Beamten eingewiesen. Waffen bekommen sie nicht, da sie nicht bedrohlich wirken sollen. Stattdessen erhält jeder ein Englisch-Wörterbuch, um sich mit Besuchern und Sportlern aus anderen Ländern verständigen zu können. „Wir sollten für die Gäste da sein“, erzählt Claassen.

Dann beginnen die Spiele mit der Eröffnungsfeier, die „gigantisch, einfach fantastisch“ ist. Claassen beobachtet den Einmarsch der Teilnehmer und hört, wie jedes Land mit einem speziellen Lied begrüßt wird. Der Ordnungsdienst ist an den äußeren Absperrungen im Schichtbetrieb eingesetzt und darf jede Halle betreten. In seiner Freizeit zieht es den Sportfan zu den Wettkämpfen im Boxen und Turnen oder ins Stadion. Alles läuft perfekt. Dann kommt der 5. September.

Polizei sauer auf die rabiate Presse

Nachdem die Nachricht über die Geiselnahme durch die Terrororganisation „Schwarzer September“ die Runde gemacht hat, werden die Spiele unterbrochen. Die Beamten sitzen in ihren Unterkünften und lauschen den teils widersprüchlichen Informationen durch Vorgesetzte und Medien. „Es ging alles drunter und drüber“, erzählt Claassen. Er und seine Kollegen hoffen, dass den Forderungen der Terroristen, palästinensische Gefangene freizulassen, nachgegeben wird, damit den Geiseln nichts passiert und die Spiele weitergehen können.

In der Nacht zum 6. September stürzt alle Hoffnung in sich zusammen: Elf Israelis und ein Polizist sind tot. Claassen ist bei der Gedenkstunde im Stadion dabei, hört die Worte von IOC-Präsident Avery Brundage: „The show must go on.“ Er findet sie richtig: „Ein Abbruch wäre für die Terroristen ein Zeichen gewesen, dass man sich von ihnen in die Knie zwingen lässt.“

Die Spiele werden fortgesetzt. Doch die heitere Stimmung ist dahin. Es wird wenig gesprochen, der Schock sitzt tief. „Äußerlich ging alles seinen Gang. Im Innern sah es anders aus.“ Statt an den Absperrungen bei den Wettkämpfen, steht Claassen erstmal bei denen für die Trauerfeiern. Ärger herrscht bei den Polizisten über das teils rabiate Verhalten der Presse, die jegliches Feingefühl vermissen lässt.

Claassen denkt bei jedem Großereignis an 1972 zurück

Auch nach 45 Jahren ist München für ihn oft präsent. Bei jeder Großveranstaltung, die durch Terroristen gestört wird, wie Fußballspiele oder Konzerte. „Dann denke ich an die Olympischen Spiele und hoffe jedes Mal, dass es gut ausgeht.“ Vergessen wollte er dieses Ereignis nie. So hat er auch die hellblaue Uniform aufbewahrt und sie vor Kurzem dem Polizeimuseum Niedersachsen in Nienburg überlassen.

Für den 83-Jährigen hängen nicht nur die Erinnerungen an das Attentat daran, sondern auch die Freude der Menschen an den Tagen davor – und vielleicht auch die Botschaft, dass man sich von Terroristen niemals die Lust am Leben nehmen lassen darf.

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