Ängste, Depressionen und Wutanfälle: So wirkt sich die Krise auf Kinder und Jugendliche aus

Wechold – Mit welchen Problemen Heranwachsenden während der Krise zu kämpfen haben – das verraten jetzt zwei Kinder und Jugendlichenpsychotherapeuten.
Die Corona-Pandemie legte einen grauen Schleier über den Alltag vieler Menschen. Zahlreiche Regeln schränkten das tägliche Leben ein. Besonders Kinder und Jugendliche, für die regelmäßiger Kontakt und Austausch mit Gleichaltrigen enorm wichtig für deren Entwicklung sind, haben darunter gelitten. In welcher Form sich die Krise auf gerade diese Personengruppe auswirkte und mit welchen Problemen die Heranwachsenden zu kämpfen hatten und auch heute noch haben – das verraten die Kinder und Jugendlichenpsychotherapeuten Mirja Schulte-Derne und Sünje Tober-Soyck jetzt im Gespräch mit der Kreiszeitung.
Das Telefon in der psychotherapeutischen Praxis in Wechold klingelte seit Beginn der Pandemie in einer Tour. „Wir haben rund doppelt so viele Anmeldungen wie zuvor“, sagt Sünje Tober-Soyck. Auch Kollegen hätten einen vermehrten Andrang bestätigen können. „Viele, die bereits vorbelastet waren, haben durch die Krise noch einmal eine zusätzliche Belastung erfahren“, erläutert sie. Ihre Kollegin versucht, dies anhand eines Beispiels noch einmal näher zu beschreiben: „Manche Kinder und Jugendlichen haben beispielsweise schon vorher Probleme damit gehabt, aufzustehen und einfach keinen Sinn darin gesehen. Durch die Pandemie ist das Gewicht, was vorher schon auf ihnen lastete, noch viel größer geworden, da es keinen Antrieb gab, überhaupt aufzustehen. Denn durch die Einschränkungen konnte man sich sowieso nicht mit Freunden treffen oder ins Kino gehen.“
Kein geregelter Alltag, die vermehrte Zeit zu Hause sowie die Abstandsregeln einzuhalten, ließ die Kinder und Jugendlichen in gewisser Weise vereinsamen. Denn durch die Schulschließungen und das Homeschooling habe der Kontakt zu Mitschülern gefehlt, „zwar haben sie sich in Videokonferenzen gesehen, aber ein echter persönlicher Austausch war ja nicht da. Neben dem schulischen Stoff ist eben auch das Sozialgefüge ungemein wichtig“, meint Sünje Tober-Soyck.
Dies habe wiederum zu einem erhöhten Medienkonsum geführt, was auch Statistiken belegen würden. Den fehlenden Kontakt hätten die Heranwachsenden nämlich stattdessen unter anderem durch die Kommunikation über WhatsApp und Snapchat versucht, zu ersetzen. „Das ist natürlich nicht das Gleiche“, findet Mirja Schulte-Derne. Besonders jungen Erwachsenen und Schülern, die beispielsweise kurz vor dem Abitur standen, machte die Situation zu schaffen. Sie hatten vermehrt mit Zukunftsängsten zu kämpfen, berichteten von Kopf- und/oder Bauchschmerzen oder litten unter Depressionen.
Aber dass Kinder und Jugendlichen in der Zeit, in der die Schulen geschlossen waren, nichts gelernt hätten, dem kann Mirja Schulte-Derne nicht zustimmen. Denn schließlich hätten sie sich den Anforderungen stellen müssen, sich daheim zu strukturieren, flexibel zu sein und sich mit verschiedensten Online-Kommunikationsplattformen auseinanderzusetzen. „Das war eine Belastungssituation, mit der sie umgehen mussten, und das wappnet sie nun für die Zukunft“, bestätigt auch Sünje Tober-Soyck die Meinung ihrer langjährigen Kollegin.
Aber nicht alle hätten diese Situation derartig bewältigen können, viele seien auch überfordert gewesen. Und da sich nicht nur Kinder und Jugendliche an die Einschränkungen halten mussten, sondern dies auch für deren Eltern galt, habe sich auf beiden Seiten ein erhebliches Stresspotenzial aufgebaut. „Die Eltern mussten während der Schließungen von Schulen und Kitas die Betreuung der Kinder und ihren Beruf unter einen Hut bekommen, Oma und Opa durften nicht besucht werden, und viele hatten möglicherweise Angst, ihren Job zu verlieren. Durch die Pandemie sind viele Teile des Gerüsts, welches sich Familien aufgebaut haben, zusammengebrochen“, stellt Sünje Tober-Soyck fest. Aufgrund des Stresspotenzials sei es deswegen oftmals zum Streit gekommen, Eltern wären auch mal laut geworden oder schlimmstenfalls sei ihnen die Hand ausgerutscht. Dass Gewalt während der Corona-Krise zugenommen habe, würden ebenfalls Statistiken zeigen.
Nun, wo die Schulen wieder offen seien und alle wieder in einem Klassenverbund Unterricht machen würden, kämen auch einige mit dieser neuen Situation nicht gut klar. „Für Kinder und Jugendliche, die sich schon vor der Pandemie zurückgezogen haben, ist es jetzt durch das lange Alleinsein umso schwerer, sich in den Klassenverbund wieder einzufinden“, so Mirja Schulte-Derne. Zudem bestehe beispielsweise eine Unsicherheit darüber, ob man sich nun darauf verlassen könne, dass wirklich alles besser werde.
In ihrer Praxis in Wechold seien während der Pandemie wenig Grundschüler angekommen. Warum das so ist, darüber können die Psychotherapeutinnen nur Mutmaßungen anstellen. „Die haben ähnlich wie Kindergartenkinder noch eine hohe Anpassungsfähigkeit, sie nehmen die Situation so hin, wie sie eben ist. Das ist allerdings individuell sehr unterschiedlich. Andere wiederum haben Ängste, sie befürchteten Oma oder Opa könnten an Corona sterben“, meint Mirja Schulte-Derne.
Bei Kleinkindern im Alter von ein bis drei Jahren seien es hingegen oftmals die Eltern gewesen, die die beiden Psychotherapeutinnen kontaktiert hätten, weil beispielsweise ihr Kind plötzlich Wutanfälle bekam oder es nicht mehr in die Kita wollte. „Die Kids merken ja auch die Verunsicherung ihrer Eltern. In solchen Fällen geht es dann auch mal um Begleit- und Erziehungsarbeit“, erklären die beiden.
Ob die Pandemie bei Kinder und Jugendlichen Langzeitschäden verursacht habe, können Sünje Tober-Soyck und Mirja Schulte-Derne noch nicht sagen. „Das wird sich zeigen.“ Aber nicht jede schlimme Situation hätte ein Trauma zur Folge, es komme stets auf die Vorbelastung und andere Faktoren an. „Zudem sind Kinder sehr regenerationsfähig, manchmal erledigt sich das Problem von selbst und muss nicht immer Auswirkungen haben“, meint Mirja Schulte-Derne.
Aber wie versuchen die beiden professionellen Psychotherapeuten Kindern und Jugendlichen eigentlich zu helfen? Die Therapie könne mit einfachen Wahrnehmungsübungen starten: „Ich gehe beispielsweise mit ihnen nach draußen, lasse sie das Gras anfassen und den Wind auf ihrer Haut spüren. Ich versuche, sie auf diese Weise daran zu erinnern, dass es neben dem Grau eben auch noch etwas anderes gibt“, erzählt Mirja Schulte-Derne. Für einige würde bereits das Gespräch mit einer neutralen Person hilfreich sein. Psychotherapeuten sind im Übrigen an die Schweigepflicht gebunden. „Sie erzählen uns, was sie beschäftigt, vertrauen sich uns an und reflektieren so sich selbst. Für viele kann das schon eine große Entlastung sein“, fügt ihre Kollegin hinzu.
Die beiden Psychotherapeutinnen aus Wechold sind davon überzeugt, dass die Corona-Pandemie im Gesamten betrachtet definitiv eher zu einer größeren Belastung führte, als zu einer Entlastung: „Anfangs führten die Einschränkungen zu einer Entschleunigung innerhalb einiger Familien, denn man hatte wieder mehr Zeit für einander und war mehr beisammen. Doch umso länger es dauerte, desto mehr Probleme und Herausforderungen gab es zu bewältigen.“