Morde an Frauen in Deutschland: „Ins Gesicht geschlagen hat er mich nie“
Obwohl die Zahl der Femizide in Deutschland erschreckend hoch ist, wird kaum darüber gesprochen. Allein 2020 starben 139 Frauen durch Gewalt ihrer Partner oder Ex-Partner.
Bremen – „Neben der körperlichen Gewalt, belastet mich heute noch die psychische Gewalt, der ich ausgesetzt war“, sagt Anja. Zehn Jahre führte sie mit einem gewalttätigen Partner eine Beziehung. Anja heißt im echten Leben nicht Anja, sie will anonym bleiben. Es fällt ihr schwer, über das Erlebte zu sprechen.
„Anfangs lief die Beziehung ganz normal. Das klingt immer sehr eigenartig. Aber ja: Mein Partner war liebevoll und hat sich um unsere Beziehung bemüht“, sagt sie rückblickend. Nach und nach schleichen sich erste Probleme ein. Schuldzuweisungen und erniedrigende Worte. „Er suchte ständig Fehler an mir und machte mich vor anderen Leuten klein“, sagt die 32-Jährige. Er gibt ihr das Gefühl, nichts wert zu sein.
Femizide: Zunächst Grenzüberschreitungen und Gewalt gegen Frauen
Nur ins Gesicht geschlagen hat er mich nie.
„An einem Abend kam er von der Arbeit heim und wollte eine Cola trinken, die ich vergessen hatte, zu kaufen. Daraufhin schmiss er eine Fantaflasche sehr heftig nach mir“, erinnert sie sich. Nach dieser Grenzüberschreitung häufen sich Vorfälle wie diese. Er packt sie kräftig am Arm, zieht und schleudert sie herum, schubst sie, bewirft sie mit Sachen und drückt sie heftig gegen Wände. „Nur ins Gesicht geschlagen hat er mich nie“, lautet ihr trauriges Resümee.
Die Angst ist während der Beziehung ihr ständiger Begleiter. „Ich hatte immer Angst, dass er mich schlägt oder ich ungünstig mit dem Kopf irgendwo dagegen knalle und was Schlimmes passiert“, sagt sie. Es geht so weit, dass Anja mit einem ausgerenkten Ellenbogen in die Notaufnahme muss.
Morde an Frauen: Opfer von psychischer und physischer Gewalt – „Alleine wäre ich nie gegangen“
Noch mehr Angst aber hat sie damals um ihre eigene Zukunft. „Ich wusste nicht, was aus mir werden sollte. Ich war ja nichts wert und alleine nicht überlebensfähig. Das endete in heftigen Panikattacken, Angstzuständen, Schlafproblemen und Minderwertigkeitsgefühlen.“
Anja macht einen Master in BWL und einen in Wirtschaftsrecht, dennoch fühlt sie sich wie der dümmste Mensch auf der Welt, sagt sie. „Mein Ex-Partner meinte auch immer, auf der Arbeit wäre ich sofort zu ersetzen. Niemand brauche mich.“ Die psychischen Probleme trägt Anja noch heute, drei Jahre später, in sich. „Alleine wäre ich nie gegangen. Dazu fehlte mir der Mut. Er hat eine andere kennengelernt und mich rausgeschmissen.“

Mit der Trennung hat sie lange Probleme. „Denn schlussendlich ist ja das passiert, was er mir gesagt hat: Niemand braucht mich. Ich bin leicht zu ersetzen.“ Anja hat Angst, wieder jemanden zu treffen, der ihr körperlich und seelisch schadet. Auch hat sie nach wie vor Probleme, ihren Selbstwert zu erkennen. „Ich habe hin und wieder jemanden kennengelernt und sofort fielen mir tausend Gründe ein, warum ich nicht gut genug für ihn bin“, sagt die 32-Jährige.
Deutschland: Jeden Tag ein polizeilich registrierter Tötungsversuch an einer Frau – jeden dritten Tag stirbt eine Frau
Jede Woche geht es drei Frauen in Deutschland wie Anja. Der Unterschied: Es bleibt nicht bei der Angst, sie werden von ihrem aktuellen oder früheren Partner getötet. Im Jahr 2020 waren es 139. Mehr als ein Mal pro Stunde wird in Deutschland eine Frau durch ihren Partner gefährlich körperlich verletzt. Auch in Niedersachsen gibt es zahlreiche Fälle.
Weltweit ist die Tötung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts ein schwerwiegendes Problem. Im Jahr 2017 wurden weltweit mehr als 50.000 Frauen und Mädchen durch (Ex-)Partner oder von einem anderen Familienmitglied getötet.
Morde an Frauen: Femizid-Fälle in Deutschland von 2015 bis 2020
2015 | 135 |
2016 | 155 |
2017 | 147 |
2018 | 122 |
2019 | 117 |
2020 | 139 |
Quelle: Kriminalistische Auswertung zur Partnerschaftsgewalt des BKA
Morde an Frauen: „Einheitliche Definition darüber, was ein Femizid ist, gibt es in Deutschland nicht“
„Eine einheitliche Definition darüber, was ein Femizid ist, gibt es in Deutschland nicht“, sagt Elisabeth Oberthür vom Verein Frauenhauskoordinierung. Der Verein orientiert sich an der Definition der WHO: Diese sagt, dass Femizide vorsätzliche Tötungen von Frauen sind, weil sie Frauen sind. Es gehe um geschlechtliche Machtungleichheiten und Hierarchieverhältnisse.
82 Prozent der getöteten Personen in Partnerschaften sind weiblich – das sagt eine Studie des Büros der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung. „Das ist nur möglich, weil dieses Gefälle zwischen den Geschlechtern besteht“, erklärt die Expertin. In der Studie wurde erhoben, in welchen Kontexten Tötungsopfer männlich oder weiblich sind. Obwohl Männer eigentlich öfter Tötungsopfer sind, sterben Frauen auffällig oft im Beziehungskontext.
Hier bekommen Opfer Hilfe: www.fh-suche.de
Femizid: Morde an Frauen in Beziehungen – hohe Zahl an Tötungen in Partnerschaften
„Femizide können beispielsweise auch im Kontext von Menschenhandel und sexualisierter Gewalt außerhalb der Partnerschaft passieren, nicht nur im sozialen Nahraum. Aber es ist sehr auffällig, dass eine so hohe Zahl an Tötungen in Partnerschaften besteht“, sagt Elisabeth Oberthür. Sozialer Nahraum bedeutet, dass es ein männlicher Verwandter sein kann, meist aber der Partner oder Expartner. Häusliche Gewalt von Frauen gegenüber Männern gebe es deutlich weniger. Frauen als Gewaltopfer: Ein unterschätztes Problem?
Die Überzeugung des Vereins ist, dass Gewalt gegen Frauen durch ein Machtungleichverhältnis bestärkt wird. „In Gewalt geprägten Beziehungen ist meist ein Mann, der denkt, er habe die Berechtigung für einen Besitzanspruch über seine Partnerin. Es hat viel mit Manipulation und Kontrolle auf psychischer Ebene zu tun, die Frau wird oft völlig unfrei“, erklärt die Expertin.
Wenn Drohungen und Beleidigungen der Alltag in einer Beziehung sind, sollten betroffene Personen reagieren. Das musste auch Anna Maqua selbst erfahren. Was sich erst unharmonisch anfühlt, entwickelt sich für sie zu einem Alptraum.
Was sind Femizide/Feminizide?
Die Tötung von Frauen wegen ihres Geschlechts oder wegen bestimmter Vorstellungen von Weiblichkeit wird als Femizid oder Feminizid bezeichnet. Der Begriff Femizid wurde von Diana E. H. Russell, einer feministischen Aktivistin und Soziologin, entwickelt. Sie definierte Femizid so: „Die Tötung einer oder mehrerer Frauen durch einen oder mehrere Männer, weil sie Frauen sind“.
Die Begriffe Femizid und Feminizid werden oft synonym verwendet, haben aber nicht die gleiche Bedeutung.
Der Begriff Femizid oder auch Intim-Femizid steht für die Tötung von Frauen durch Männer, denen sie nahestanden.
Der Begriff Feminizide betrachtet hingegen die Rolle staatlicher Institutionen und Akteure in der Bekämpfung von Tötungen an Frauen. Das heißt, welche Maßnahmen werden von staatlicher Seite getroffen und welche nicht, um Tötungen zu verhindern.
Der Begriff Femizid schließt dabei an internationale feministische Bewegungen, Bündnisse und Proteste an. In vielen lateinamerikanischen Ländern gibt es mittlerweile einen eigenen Straftatbestand für Femizide.
Quelle: Frauen gegen Gewalt e.V.
Femizide: Wer sind die Täter?
Der Gewalt ausübenden Person geht es um Kontrolle. Wenn die Person das Gefühl hat, die Kontrolle zu verlieren, kann es zum Femizid kommen. „Femizide sind Teil eines Gewaltprozesses, die Spitze des Eisbergs“, sagt Elisabeth Oberthür.
Oft gibt es ein bestimmtes Bild, das wir im Kopf haben, wenn wir an häusliche Gewalt denken. Doch sowohl Täter als auch betroffene Frauen kommen aus allen Gesellschaftsgruppen. Das zeigt sich schon alleine anhand der Zahlen: Dunkelfeldstudien zeigen, dass jede dritte Frau schon einmal Opfer von häuslicher Gewalt geworden ist. Und jeder dritte Mann hat schon einmal Gewalt ausgeübt.
Wie kommt es von der vermeintlichen Liebe zum Mord?
Doch warum kommt es zum Mord? „Trennungssituationen sind besonders gefährlich. Oder wenn der Macht ausübende Partner das Gefühl hat, dass seine Partnerin gehen will und er die Kontrolle verlieren könnte“ erklärt Elisabeth Oberthür.
Dr. Jane Monckton Smith, Dozentin an der University of Gloucestershire, analysierte 372 Tötungsdelikte im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt in Großbritannien und entdeckte bei fast jedem Mord ein Muster.
Acht Stufen der Gewalt vor einem Femizid in der Partnerschaft
- Vorgeschichte: Der Täter hat eine Vorgeschichte, in der er andere Personen kontrolliert, verfolgt oder missbraucht hat.
- Schnelles Tempo: Die Beziehung entwickelt sich schnell zu etwas Ernstem.
- Kontrollsucht: Die Beziehung wird zunehmend kontrollierender – emotional, finanziell, sozial oder anderweitig. Der Täter fragt ständig, was die Partnerin macht und schirmt sie sozial immer mehr ab.
- Auslöser: Es tritt ein Ereignis ein, das die Kontrolle des Täters gefährdet, etwa das Ende der Beziehung. Schwangerschaften sind oft auch ein Auslöser, weil diese Kontrolle nicht mehr so einfach erlauben.
- Eskalation: Die Kontrolltaktiken des Täters nehmen an Intensität und / oder Häufigkeit zu, beispielsweise durch emotionale Erpressung, Androhung von Selbstmord oder regelmäßiges Stalking.
- Scheinbarer Sinneswandel: Der Täter zeigt eine Veränderung im Denken, er scheint loslassen und seine Partnerin in Ruhe lassen zu wollen.
- Planung: Der Täter denkt darüber nach, wie der Mord durchgeführt wird (er kauft Waffen oder versucht, Gelegenheiten zu schaffen, das Opfer alleine anzutreffen).
- Mord: Der Täter tötet seine Partnerin und manchmal auch die Kinder des Opfers.
Es sei hilfreich, diese Mechanismen im Hinterkopf zu haben, auch bei der Partnerwahl. „Natürlich muss man auch nicht jedem Menschen misstrauisch begegnen, aber wir sollten in Beziehungen sensibler für Anzeichen von Kontrolle oder psychischer Gewalt werden“, sagt Elisabeth Oberthür. „Wenn eine Frau ihr Leben darauf auslegt, den Partner nicht zu reizen, sollten die Alarmglocken angehen“, rät sie.
Deshalb sei es auch so wichtig, anders über häusliche Gewalt zu reden und besonders die psychische Gewalt in den Fokus zu stellen. „Starke Eifersucht ist kein Zeichen von Liebe, sondern Ausdruck von Kontrolle und Macht“, sagt die Expertin.
Häusliche und psychische Gewalt: Tipps für Frauen
- 1. Wenn sich eine Frau so sehr anpasst, nur damit sie keiner psychischen und physischen Gewalt ausgesetzt ist, sollte ein Weckruf sein.
2. Wenn eine Frau das erkennt und ausbrechen will, ist das Hilfetelefon eine wichtige Anlaufstelle.
3. Beim Hilfetelefon gibt es auch eine Chatfunktion in vielen Sprachen. Besonders hilfreich, wenn der Partner in der Nähe ist und nichts mitbekommen soll.
4. Es gibt regionale Beratungsstellen, die für ein persönliches Gespräch aufgesucht werden können.
5. Wenn es physisch eskaliert: Polizei rufen. Der Täter kann bis zu zwei Wochen dazu verpflichtet werden, die gemeinsame Wohnung nicht betreten zu dürfen.
Bei diesem Verhalten ihrer Partner sollten Frauen vorsichtig sein
„Wenn die Frau immer stärker im Selbstwert eingeschränkt wird und irgendwann an einem Punkt ist, an dem sie denkt, sie hätte es verdient, emotional gedemütigt zu werden, befindet sie sich in einer gewaltvollen Beziehung“, sagt Elisabeth Oberthür. „Umso weniger Selbstbewusstsein da ist, umso schwieriger ist es, der Beziehung zu entkommen“, weiß sie.
Gaslighting sei auch ein Phänomen, das oft in gewaltvollen Beziehungen auftrete. Der Begriff „Gaslighting“ bezeichnet eine Form von psychischer Gewalt, bei dem die Opfer so stark durch Lügen, Leugnen und Einschüchterungstaktiken manipuliert werden, dass sie anfangen, an ihrem eigenen Verstand zu zweifeln.
„Es gibt dann beispielsweise oft Routinen, von denen die Frau nicht abweichen darf. Sie darf nicht mehr viel alleine unternehmen. Freunde, die kritisch auf die Beziehung gucken, versucht der Partner abzusondern, weil sie ihn vermeintlich nicht mögen.“ Umso schwerer sei es, sich dem Täter zu entziehen, wenn die betroffene Frau denkt, sie sei schuld und nur noch ihn habe.
Femizide: Was muss sich in Deutschland ändern?
Femizid ist in Deutschland kein Begriff der juristischen Fachsprache im Sinne eines Tatbestands. Nach Meinung des Vereins Frauenhauskoordinierung braucht es zumindest ein Verständnis des Begriffs und der Hintergründe von Femiziden. „Die Polizei und auch Gerichte müssen sich im Klaren darüber sein, welche Muster es gibt. Nur so kann festgestellt werden, ob es ein Femizid ist und wie präventiv dagegen vorgegangen werden muss“, sagt Elisabeth Oberthür.
„Besonders wichtig ist es auch, dass es ein Hilfesystem gibt, dass für alle erreichbar und barrierefrei ist. Es muss auch Hilfestrukturen geben, die so finanziert sind, dass jede Frau Schutz bekommt.“ Das sei aktuell nicht der Fall. Auch Aufklärung sei wichtig: „Hier müssen wir schon sehr früh, besonders bei Jungen, ansetzen. Erklären, wie ein gleichberechtigter Umgang mit Mädchen und Frauen seien sollte“, sagt Elisabeth Oberthür.
Das Bundeskriminalamt wertet die Zahl der Tötungen in Partnerschaften in Deutschland erst seit 2015 aus. Eine polizeiliche Erfassung von Femiziden allgemein gibt es nicht. Seitdem ist sichtbar, dass öfter als jeden dritten Tag eine Frau in Deutschland durch ihren Partner oder Ex-Partner getötet wird. Tötungsversuche gibt es täglich. „Das Problem ließ sich früher schneller wegschieben, weil es keine Zahlen gab, die die Dimensionen sichtbar gemacht haben“, sagt die Expertin.