Sulingen: Alter oder neuer Standort - Bürgermeister Bade gibt das „Nachtwerk“ nicht auf

Die ersten 100 Tage als Sulinger Bürgermeister hat Patrick Bade nun hinter sich gebracht. Im Interview zieht der 44-Jährige eine erste Zwischenbilanz, erklärt wie er „Tetris im Terminkalender“ spielt, warum „Mondpreise“ viele Projekte blockieren, wieso in Sachen Bahn-Reaktivierung sein Optimismus zurück ist und wie es mit dem „Nachtwerk“, der größten Diskothek der Region, weitergehen könnte. Das Gespräch führten Harald Bartels und Carsten Sander.
Herr Bade, wie waren die ersten 100 Tage?
Spannend, aufregend auf jeden Fall – und sehr vollgepackt. Im Moment besteht die Hauptaufgabe darin, die ganze Terminanfragen aneinander zu puzzeln, das ist Tetris im Terminkalender. Ich hoffe, dass das noch anders wird, weil es mich stört, wenn man sich nicht auf Gespräche vorbereiten oder die Gespräche nachbereiten kann. Es wird irgendwann aber auch nachlassen, denn jetzt ist noch viel erhöhter Redebedarf, intern wie extern. Aber es freut mich auch, dass so viele das Gespräch suchen, das stimmt mich sehr positiv.
Wie ist das Leben im Rathaus?
Es macht mir richtig, richtig Freude, hier zu arbeiten. Im Rathaus arbeitet ein ganz tolles Team, das möchte ich klar sagen. Ich war ja vorher auf der anderen Seite in der Politik und habe auch geschimpft, aber hier arbeiten ganz engagierte Leute, die wirklich viele Stunden mit intensiver Arbeit zubringen. Manche Fachbereiche kriechen personell auf dem Zahnfleisch, weil wir Stellen nicht nachbesetzen können – der Fachkräftemangel ist nicht nur in der Pflege ein großes Thema, sondern auch in der Verwaltung. Es ist jeden Tag ein Abenteuer, weil neue Aufgaben auf einen warten, auch völlig unerwartete.
Was macht es denn zum Abenteuer?
Es ist so vielseitig: Einen Tag spricht man mit dem Angelsportverein über Dinge, am nächsten Tag hat man Krieg in der Ukraine und völlig neue Probleme, die viele anderen Dinge relativieren. Im Wahlkampf habe ich vom „Traumberuf Bürgermeister“ gesprochen, und das ist es wirklich.
Gerade sind einige Themen in der Diskussion, ganz aktuell die Frage um „Nachtwerk“ / Verbrauchermarkt am Bahnhof. Wie sehen Sie die Situation?
Vorweg: Das Aufkommen der Diskussion fiel gerade in eine Zeit, in der ich selber zwei Wochen ausgefallen und deshalb nicht gleich an die Öffentlichkeit gegangen war. Ich konnte in dem Zeitraum keinen Kontakt aufnehmen mit den Jugendlichen, der Bünting-Gruppe (das Unternehmen will an der Stelle der Disco „Nachtwerk“ einen Combi-Verbrauchermarkt errichten, d. Red.) und Herrn Henke (Besitzer des „Nachtwerk“, d. Red.), denn ich spreche gerne erst mit den Leuten, bevor ich da etwas kundtue. An diesem Punkt sind wir gerade: Es finden viele Gespräche statt, und wir versuchen eine Lösung zu finden, die am Ende möglichst viele zufriedenstellt. Alle zufriedenzustellen, wird wahrscheinlich schwierig werden.
Wie könnte eine Lösung aussehen und wer müsste sie vorantreiben?
Es ist nicht die Fläche der Stadt, auf der das „Nachtwerk“ steht. Deswegen sind wir immer darauf angewiesen, welche Vorstellungen der Eigentümer hat. Wenn aber innerhalb weniger Tage 7 000 Menschen eine Petition für den Erhalt des „Nachtwerk“ unterschreiben, kann man das nicht außer Acht lassen. Darum bin ich auch immer wieder mal mit der Bünting-Gruppe in Gesprächen, um am Ende vielleicht beides zu realisieren – Combi und „Nachtwerk“. Es gab 2017 ja schon Pläne, die weit gediehen waren und wir einen Aufstellungsbeschluss gefasst haben für großflächigen Einzelhandel in dem Gebiet. Da gab es keinen Aufschrei, weil das „Nachtwerk“ erhalten bleiben und weiter hinten, mit einer Teilfläche der Stadtentwicklungsgesellschaft (STEG), ein Markt errichtet werden sollte. So etwas wäre immer noch denkbar, aber das müssen auch alle Parteien wollen.
Ist es Ihr Wunsch, beides dort zu erhalten?
Mein Wunsch ist, beides zu erhalten. Ob das an dem Ort klappt, muss man sehen. Sollte es am Ende nicht funktionieren, dass das „Nachtwerk“ im jetzigen Gebäude erhalten bleibt, bin ich auf jeden Fall gewillt, Alternativen zu suchen. Ich gucke auch jetzt schon nach Möglichkeiten, wo es rechtlich gehen würde und auf welchen Flächen es möglich wäre. Versprechen kann ich aber nichts.
Was sind denn die Kernprobleme bei der Ansiedlung einer Diskothek? Geht es überhaupt in einer geschlossenen Ortschaft oder muss man in ein Gewerbegebiet gehen?
Es muss baurechtlich möglich sein, und in den neuen Gewerbegebieten haben wir Vergnügungsstätten immer ausgeschlossen.
Welche Bereiche bleiben also für Sulingen übrig?
Alles, was Gewerbegebiet ist und eine ältere Bauleitplanung hat, vornehmlich im Sulinger Osten. Aber es ist auch immer eine Frage der Flächenverfügbarkeit. Wir als Stadt haben nirgends Flächen, sonst wären wir vielleicht auch schon weiter.
In der Debatte kam auch die Versorgung des Sulinger Westens auf. Wird das verstärkt angegangen über eine mögliche Erweiterung des Netto-Markts hinaus?
Das ist aus Sicht der Verwaltung so nicht möglich. Es widerspricht dem Einzelhandelsentwicklungskonzept, da ein neuer Markt nicht nahversorgungsrelevant wäre, weil der Netto dort schon ansässig ist. Bei der Ansiedlung von Lebensmittelmärkten ist die Stadt Sulingen an die Ziele der Raumordnung gebunden.
Stichwort Haushalt: Es stehen einige Investitionen bevor, gerade Kindergarten- und Krippenplätze betreffend. Wird das zu stemmen sein?
Ich will den Haushaltsberatungen nicht vorgreifen, aber es werden nicht alle Investitionen so möglich sein, wie wir sie anstreben.
Welche Investitionen stehen auf der Kippe?
Das ist nicht der richtige Ausdruck. Wir suchen nach Alternativen. Wenn wir über die Kindergartenplätze sprechen – das sind 1,3 Millionen Euro. Und wir prüfen, wie wir das günstiger realisieren können. Über die Anmietung von Objekten, vielleicht auch nur vorübergehend, oder langfristig über einen anderen Bauträger, sprich die STEG. Aber das klären wir gerade noch rechtlich.
Auch der Kinderhort sucht nach neuen Räumen. Gibt es da schon Fortschritte?
Überlegungen, Pläne, Konzepte ja, aber auch da sind wir darauf angewiesen, dass wir eine Fläche oder ein Gebäude zur Verfügung haben. Im Moment sind Flächenverfügbarkeiten wirklich unser Hauptproblem, weil niemand gewillt ist zu verkaufen – oder wenn, dann nur zu absoluten Mondpreisen.
Muss man dann Projekte auch anders denken, indem man mehr in die Höhe baut, vielleicht auch auf bestehenden Objekten?
Da gibt es ein baurechtliches Limit, aber man muss immer nach Alternativen schauen: Vergibt man vielleicht Sachen doch fremd, holt man sich andere Träger mit an Bord. Wir machen bei Kindergärten relativ viel selber und haben nur die evangelisch-lutherische Kirche und die Lebenshilfe Grafschaft Diepholz dabei.
Gibt es eventuell schon weitere Träger, für die Sulingen interessant wäre und umgekehrt?
Es ist ein offenes Geheimnis, dass das Deutsche Rote Kreuz schon lange Interesse bekundet.
Ein großes Projekt ist die Innenstadtsanierung. Gibt es erste konkrete Schritte?
Das Sanierungsverfahren läuft über 15 Jahre, da haben wir gerade erst die Satzung erlassen und sind noch ganz am Anfang.
Was wäre, wenn es nach Ihren Wünschen ginge, die erste Maßnahme?
So weit bin ich noch nicht in meinen Überlegungen. Ich habe viele Projekte, die ich gerne angehen würde, aber die habe ich noch nicht priorisiert. Über einen so langen Zeitraum und mit den begrenzten Mitteln pro Jahr muss man abwarten, was dann denkbar ist. Wir müssen erst einmal sehen, dass wir auch Projekte wieder hineinbekommen, wie das soziokulturelle Zentrum. Das war ein Ziel, aber es ist herausgefallen, weil uns das Gelände nicht gehört.
Ein weiterer Punkt ist die Nachnutzung des Klinikgebäudes. Wie ist der Stand?
Wir bewerben uns als Sulinger Land für die europäische Förderung im LEADER-Programm. Als Steuerungsgruppe, die aus den vier Bürgermeistern besteht, haben wir uns vorgenommen, dass wir als Startprojekt eine Machbarkeitsstudie / Bedarfsanalyse für die Nachnutzung der Klinik durchführen. Das muss aber die lokale Aktionsgruppe noch bestätigen.
Wann könnte man mit Ergebnissen rechnen?
Bis Ende März müssen wir unsere Unterlagen abgeben, und dann brauchen wir die Bestätigung, dass wir in das Programm aufgenommen werden. Dann können wir 2023 die Analyse durchführen, aber wie viel Zeit sie in Anspruch nehmen wird, vermag ich noch nicht abzuschätzen.
Eine andere Machbarkeitsstudie, die zur Reaktivierung der Bahnstrecke, soll in Kürze vorgestellt werden.
Auf die Studie bin ich gespannt. Aber schon jetzt ist klar, dass eine Realisierung von vielen Beteiligten abhängig ist. Wir werden mit den Umlandkommunen ins Gespräch gehen müssen, wie sie dazu stehen. Dann wird man vielleicht auch noch gemeinsam auf das Land zugehen müssen: In anderen Bundesländern sind zig Strecken zur Reaktivierung angemeldet, und in Niedersachsen sind es derzeit null. Das wird sicher auch noch ein Thema für die Landtagswahlen sein.
Braucht die Stadt Sulingen wirklich einen Bahnanschluss, um zukunftsfähig zu sein?
Da braucht man nur auf die aktuelle Entwicklung zu gucken und mal zur Tankstelle zu fahren. Wenn die Entwicklung so weitergeht, wird es für viele Menschen zwingend notwendig sein, dass sie auch mit der Bahn von A nach B kommen können. Auch für die Infrastruktur unserer Region und die weitere Entwicklung Sulingens ist es wichtig.
Haben Sie da Optimismus?
Mehr als noch vor ein paar Jahren. Hätten Sie mich vor fünf Jahren gefragt, hätte ich gesagt, das ist völlig unrealistisch.
Was hat sich geändert?
Es sind mehrere Faktoren, die Einfluss nehmen: ein Umdenken in der Gesellschaft, der Umstieg auf den Öffentlichen Personennahverkehr, das Bewusstsein für Klimaschutz, auch die aktuelle Entwicklung in anderen Ländern.
Es fällt auf, dass Sulingen im Vergleich zu umliegenden Städten noch eine sehr lebendige Innenstadt hat. Wie kann man das erhalten?
Da sind wir wieder beim Thema Combi-Markt: Wenn ich den aus der Stadt rausziehe, ziehe ich damit auch Kaufkraft aus der Stadt ab. Je mehr ich herausziehe, umso leerer wird die Innenstadt, und daran hat auch kein ortsansässiges Unternehmen Interesse. Wir können aber nur die Rahmenbedingungen schaffen, und da bin ich immer ganz begeistert, was wir in Sulingen alles vorhalten, auch an freiwilligen Leistungen. Das finde ich auch ein bisschen ungerecht, dass in der Diskussion gesagt wurde: Wenn das „Nachtwerk“ weg ist, gibt es hier nichts mehr für Jugendliche. Sulingen hat wirklich ein großes Angebot – das „Jozz“, die Stadtbücherei, zwei Bäder, Stadttheater und etliche Vereine, die wirklich viel Jugendarbeit leisten, ebenso wie die Freiwillige Feuerwehr. Da passiert ganz viel, und wir können stolz sein, was Sulingen – für seine Größe – eigentlich an Angeboten hat.
Es gibt aber bereits Klagen, dass die Begleitgeschäfte eines Verbrauchermarktes – zum Beispiel Bäcker und Blumenladen – traditionelle Sulinger Geschäfte gefährden könnten.
Ja, aber das ist der Wettbewerb.
Wenn Sie in die Zukunft schauen: Was wünschen Sie sich für Ihr erstes Amtsjahr als erledigt?
Mir fällt es manchmal noch schwer, Sachen zeitlich richtig einzuschätzen – was sie an Arbeitsaufwand nach sich ziehen. Bei der Bauleitplanung etwa ist ein Jahr nichts, leider. Das liegt aber nicht an der Verwaltung, sondern das Auslegen, die Beteiligung der Öffentlichkeit et cetera, das braucht seine Zeit. Dann sind wir auch auf externe Planungsbüros angewiesen und insofern auch fremdbestimmt. Wir müssen aber zwingend zum Sommer Kindergartenplätze schaffen. Die ärztliche Versorgung ist immer ein Thema, das werden wir aber nicht in einem Jahr lösen. Was ich eigentlich schon für die ersten 100 Tage angepeilt hatte, ist die Anschaffung eines Lifters für unsere Bäder. Wenn man bedenkt, was wir in Sulingen an Einrichtungen haben – die Delme-Werkstätten, die Lebenshilfe, die Paul-Moor-Schule, die Lindenschule –, da wundert es mich, dass wir da nicht materiell besser ausgestattet sind. Jetzt aber einen tragfähigen Haushalt auf die Beine zu stellen, ist eines der Hauptthemen.
Welche Auswirkungen des Ukraine-Kriegs erwarten Sie für Sulingen?
Wir bereiten uns auf die Ankunft von Geflüchteten vor, wissen aber nicht, mit welcher Anzahl wir rechnen müssen. Wir bekommen aber schon jetzt ganz, ganz viel Rückmeldungen mit Hilfsangeboten aus der Bevölkerung, das finde ich wirklich super. Das ist das Schöne an Sulingen: dass in der Not alle zusammenstehen. Für die Verwaltung ist es derzeit aber schwierig, weil sich quasi stündlich die Sach- und Rechtslagen ändern. Wir wissen nur, dass in Berlin stündlich vollbesetzte Züge ankommen und am Bahnhof Chaos herrscht. Die Bahn stellt Sonderzüge bereit, mit denen die Menschen auf die Bundesländer verteilt werden. Aber niemand weiß, womit Sulingen rechnen muss.