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Vortrag in Stuhr-Brinkum: Autismus bei Kindern verstehen

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Von: Andreas Hapke

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Sehr beliebt sei die Spielküche bei den Klienten des Therapiezentrums, sagt Beata Ciarkowska.
Sehr beliebt sei die Spielküche bei den Klienten des Therapiezentrums, sagt Beata Ciarkowska. © Andreas Hapke

„Autisten wollen so normal wie möglich sein.“ Wer das sagt, muss es wissen: Beata Ciarkowska leitet das Autismus-Therapiezentrum in Bassum.  

Stuhr – Autismus bei Kindern kann für alle Beteiligten eine große Herausforderung bedeuten. Was sind die Anzeichen, was die Fördermöglichkeiten? Darüber spricht Beata Ciarkowska, Diplom-Psychologin und Leiterin des Autismus-Therapiezentrums in Bassum, am morgigen Mittwoch im Rahmen der Werkstatt Erziehung. Zeit und Ort: um 19.30 Uhr in der Grundschule Brinkum, Feldstraße 15. Der Kreiszeitung gibt sie vorab einen Einblick in das Thema.

„Autisten sind nicht alle gleich“

Frau Ciarkowska, Sie sprechen in Brinkum über Autismus bei Kindern. Unterscheidet der sich von dem bei Erwachsenen?

Jein. Es gibt einen Unterschied zwischen Autismus und Autismus, der ist aber nicht altersabhängig. Autisten sind nicht alle gleich. Die Verhaltensweisen machen den Unterschied aus.

Was sind die frühen Anzeichen? Wann müssen Eltern stutzig werden?

Wenn wir von kleinen Kindern sprechen: Wenn es nicht auf seinen Namen reagiert; wenn es sich zurückzieht, sich nicht in einer Gruppe aufhalten möchte; wenn es sehr wählerisch ist bei der Kleidung oder beim Essen.

Das war ich als Kind aber auch sehr.

„Kinder zeigen große Objektbezogenheit“

Bei autistischen Kindern ist das noch ein Tick mehr. Ich kenne Menschen mit Autismus, die nur gelbe oder runde Sachen essen. Sehen Sie diese Kekspackung hier: Da fehlen die runden Kekse. Eine Mutter berichtete mir über ihr Kind als Säugling. Da habe sie schon gemerkt, dass es anders gewesen sei. Es habe sich entweder weggeschlafen oder nur geschrien. Es sei keine innige Beziehung entstanden. Betroffene Kindergartenkinder fühlen sich nicht zu Gleichaltrigen hingezogen. Sie sitzen lieber in der Ecke und spielen mit Spielsachen, weil sie die vielen Außenreize überfordern. Und das Spielverhalten ist anders. Insgesamt zeigen diese Kinder eine sehr große Objektbezogenheit. Wir hatten ein Kind, das sehr auf Legosteine bezogen war. Dann fehlte ein Stein, und es war eine Katastrophe, da seine Ordnung durcheinanderkam.

Wie wird Autismus in jungen Jahren diagnostiziert?

Vor 25 Jahren war die Diagnose noch nicht so weit. Da hat man gesagt: Das verwächst sich. Heute haben Ärzte einen Fragebogen, den sie zusammen mit den Eltern abarbeiten. Anhand des Bogens können sie dann sagen: Okay, da geht es in Richtung Autismus. Dann überweisen sie das Kind an ein sozialpädiatrisches Zentrum, wenn es jünger als sechs Jahre ist. Ist es älter, erstellt ein Kinder- und Jugendpsychiater die Diagnostik. Dort beginnt es mit einem Anamnesegespräch. Die Diagnostik basiert dann auf Beobachtung, standardisierten Tests und Elterninterview. Meistens passiert das innerhalb von fünf Terminen. Die Wartezeiten beim Psychiater und den Zentren dauern leider bis zu sechs Monaten oder einem Jahr.

„Häufig genetische Faktoren verantwortlich“

Sind Ursachen für Autismus bekannt?

Häufig sind es genetische Faktoren, doch hundertprozentig kann man das nicht sagen. Bei Autismus sind verschiedene Gene betroffen. Was aber gesichert ist: Es ist kein Erziehungsfehler der Eltern, keine Gefühlskälte der Mutter, Impfungen als Auslöser, keine Magen-Darm-Erkrankungen oder Nahrungsmittel-Unverträglichkeiten.

Wie beeinflusst Autismus den Alltag der Familien?

Das ist unterschiedlich. Darüber könnte ich ein Buch schreiben. Viele Familien stellen sich sehr auf das autistische Kind ein. Wir haben zahlreiche Familien, die ihre sozialen Kontakte einschränken, da sich das autistische Kind auf so viele unterschiedliche Reize schlecht einstellen kann. Zudem ist das Umfeld oftmals noch nicht bereit, sich auf die Bedürfnisse des Menschen mit Autismus einzulassen.

Welchen Ansatz verfolgen Sie in ihrer Praxis?

Unsere Aufgabe ist, die Kinder und Erwachsenen in die Gesellschaft zu integrieren. Dazu schauen wir uns jedes Kind einzeln an. Wo sind die Stärken, wo die Schwierigkeiten des Kindes? Wie können wir die Schwierigkeiten mit den Stärken kompensieren? Wir arbeiten nach dem Multimodalen Modell. Wir wollen das Kind nicht verändern. Wir möchten, dass es Strategien erlernt, wie es sich in die Gesellschaft einfügen kann, damit es ein möglichst selbstbestimmtes Leben führen kann. Unsere Therapie umfasst nicht nur die Arbeit am Klienten, sondern auch die Arbeit am Umfeld und am Elternhaus. Das A und O unserer Therapie ist aber die vertrauensvolle Beziehung zum Kind.

Eltern dürfen bei Therapie dabei sein

Wie bauen Sie die auf?

Autistische Kinder haben ja ihre Sonderinteressen. Die machen wir uns zunutze. Dadurch, dass wir Kinder erst mal so annehmen, wie sie sind, und ihnen zuhören, wecken wir ihre Motivation, sich zu öffnen. Manche Kinder haben hier zum ersten Mal das Gefühl, dass man sie versteht.

Dürfen Eltern dabei sein?

Ich habe persönlich nichts dagegen. Doch für die Beziehung zu der Therapeutin ist es sinnvoller, nicht im Beisein der Eltern zu arbeiten.

Welche Förderung gibt es darüber hinaus?

Zusätzlich zur Autismus-Therapie kann man natürlich auch Sprachtherapie, Ergotherapie oder Logopädie machen. Wichtig ist dann die Vernetzung mit den Therapeuten. Viele Kinder, die zu uns kommen, hatten schon sehr viele Therapien. Das könnte sie überfordern. Wir schauen gemeinsam mit den Eltern, was in welchem Maß das Richtige für ihr Kind ist.

Kinder haben Anspruch auf schulische Begleitung

Mit welchen Lernschwierigkeiten ist ein autistisches Kind konfrontiert?

Auch das ist sehr unterschiedlich. Wir haben hier autistische Kinder, die entweder super im mathematischen, naturwissenschaftlichen Bereich sind oder in Sprachen. Es gibt aber auch Kinder, die mit Lese-Rechtschreibschwäche oder Dyskalkulie zu tun haben. Jedes Kind ist anders.

Hat ein solches Kind ein Recht auf schulische Begleitung?

Menschen mit Autismus haben Anspruch auf schulische Begleitung, dies wird aber individuell von dem Kostenträger überprüft. Das wäre auf jeden Fall gut für das Kind. Es hätte eine Art Dolmetscher. Viele Menschen mit Autismus verstehen vieles wortwörtlich. Ein Übersetzer sorgt dafür, dass das Kind das Buch nicht auf den Tisch schlägt, wenn der Lehrer sagt, schlagt mal das Buch auf. Oder er könnte sich mit dem Kind in einem separaten Raum besprechen. Oder in den Pausen sagen: Komm, lass uns mal die Kinder ansprechen, vielleicht spielen sie mit dir.

„Autisten unbedingt normal behandeln“

Was muss ich als Außenstehender im Umgang mit einem autistischen Kind beachten?

Sie unbedingt normal behandeln. Sie wollen nicht überall aus der Norm fallen, sondern so normal wie möglich sein. Es sind Strukturen und feste Zeiten wichtig. Nicht jeden Tag spontan etwas anderes machen. Jede Abweichung von der Regel bedeutet für sie eine Veränderung ihrer Routine. Wichtig wäre, bevorstehende Termine anzukündigen. Manche müssen so etwas schon eine Woche vorher wissen. Verlässlichkeit anbieten, beispielsweise durch einen festen Tagesablauf, der im besten Fall visualisiert wird. Autistische Kinder reagieren schneller auf Bilder.

Wie groß ist der Anteil von Kindern in ihrer Praxis?

Die Klientenzahl des Autismus-Therapiezentrums in Bassum beträgt 121, davon ungefähr 80 im Alter von 9 bis 14 Jahren.

Ist Autismus bei Kindern ein zunehmendes Problem?

Nein, Autismus wird heute besser diagnostiziert, und das Umfeld ist aufgeklärter. In der Schule gab es früher Frontalunterricht, heute gibt es viel Gruppen- und Freiarbeit. Damit haben betroffene Kinder Schwierigkeiten. Aufmerksam sein und sich beraten lassen, lautet das Motto. Je früher man etwas weiß, desto besser. Man kann die Hilfen schneller in Anspruch nehmen und hat mehr Chancen, dass nicht noch eine komorbide Störung wie Angststörung, Depression oder ADHS hinzukommt.

Von Andreas Hapke

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