„Ein altes Buch hat so viel erlebt“

Scholen – Ein dicker Stapel Papier zwischen zwei lädierten Lederdeckeln: Ein Anblick, der den Laien verschreckt, dem Bücherfreund die Sprache stocken lässt – und der Buchbindemeisterin Sabine Rasper auf dem Atelierhof „Scholen 53“ eben nicht in die Hände spucken lässt. Speichel an den Fingern wäre fatal beim Anfassen des Jahrhunderte alten Kleinods.
Der Stapel Papier ist nicht die erste alte Bibel, die ihr vorgelegt wird, mit der Bitte um Restaurierung. Wonach entscheidet sie, ob sie den Auftrag annimmt? „Ich gucke mir das Buch von vorne bis hinten genau an“, erklärt Sabine Rasper.
Sie prüfe die Vollständigkeit, insbesondere die Heftung: Welche Qualität hat die? Wie gut ist sie erhalten? Denn: „Eine neue Heftung verteuert die Arbeit wahnsinnig. Das muss ich den Kunden dann fragen – ob er bereit ist, diese hohen Kosten zu übernehmen.“ Nein, keinem Kunden würde sie ein „Nein“ übel nehmen. „Ich kann das sehr gut verstehen. Denn allein das Heften hat, am Beispiel dieser Bibel, schon zehn Stunden gedauert. Nicht einberechnet sind die aufwendigen Vorbereitungen, die weitere Stunden verschlungen haben.“

Vorbereitungen, die nach Entspannung klingen: Das Buch durchsehen. Auf Vollständigkeit prüfen (Seiten müssten nachgeordert werden, als Kopie), auf Fehlstellen auf den Seiten achten (die ausgebessert werden müssten). An der Stelle müsste der Kunde entscheiden, ob das Buch künftig genutzt wird oder eher Zierde wäre. Diese Bibel stamme aus dem Jahr 1707, sei in Fraktur gesetzt, was nicht jeder lesen könne – aber mancher vielleicht Lust hätte, zu lernen, um eine Bibel, die als Familienbesitz weitergereicht wird, zu lesen.

Was ist den Kunden am wichtigsten? Die Wiederherstellung der äußeren Hülle oder des Buches, sollten Seiten fehlen? „Je nachdem, wie das Buch genutzt wird. Hier war der vordere Holzdeckel zerfressen, die Heftung kaputt. Was hergestellt werden soll, müssen die Auftraggeber in der Familie besprechen, bevor die Ausgaben anstehen“, erklärt Sabine Rasper.

Die Buchbindemeisterin betont, dass sie nicht alles ersetzt, was fehlt. Soll heißen: Wenn erkennbar ist, dass einst Schließen an dem Buch waren, diese aber nicht mehr vorhanden sind, denke sie sich kein neues Design aus für eine neue Schließe. Die werde eben nicht ersetzt. „Ein altes Buch hat soviel erlebt, da verträgt es kein frisches, schönes Buch, sondern eben ein altes.“

Wo bekommt Sabine Rasper die fehlenden Seiten her? Erste Anlaufstelle ist die Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Sabine Rasper betont, dass es grundsätzlich wichtig sei, das genaue Exemplar zu bekommen, beziehungsweise eine digitale Kopie der Seite(n). Das klingt nur einfach, denn: Nicht alle alten Bücher sind digitalisiert. Weitere Quellen sind Staatsbibliotheken und kirchliche Büchereien. Die nächste Hürde: Die digitale Kopie in einer Qualität zu bekommen, die einen passenden Ausdruck erlaubt. Diesen gibt es nur im Spezialgeschäft, das den Druck auf einem passenden Papier durchführen kann. „Das war in diesem Fall ein riesiges Problem: Es galt, das Bibelformat doppelseitig auszudrucken.“ Sabine Rasper ist in Hamburg fündig geworden.

Gibt es besonders heikle Schritte? Rasper erinnert sich an Bücher, die mit Leim verklebt waren. An Bücher, bei denen sich der Schimmel durch mehrere Seiten hindurchgefressen hatte. Das auseinanderzunehmen habe „viel Anspannung bedeutet, weil ich keinen Verlust haben wollte. Ich möchte von dem, was noch da ist, möglichst viel erhalten.“ Risse, die quer durch ein Blatt gehen, werden mit Kleister und Japanpapier gekittet: „Das ist eine friemelige Arbeit.“

Bei diesem Buch hatte etwa das alte Leder keine großartigen Verzierungen, dennoch hat Sabine Rasper es wieder verwendet, „da es die Atmosphäre der Bibel gut sichtbar macht“. Wie nehmen die Kunden Anteil? Rasper muss, um die wichtigen Fragen zu klären, immer wieder mit den Kunden sprechen – schickt ihnen Fotos. Gerne dürfen sie anrufen – die Arbeiten dauern mitunter ein halbes Jahr. Oft erstellt Sabine Rasper eine Dokumentation, fertigt eine CD mit den Aufnahmen der einzelnen Arbeitsschritte.

Diese Bibel wurde zu Weihnachten fertig. Und? Rasper verrät: „Die Kundin war zufrieden und sagte, es sei schön so geworden. Sie will das alte Familienstück auf ihrer großen Diele der alten Hofstelle von 1702 zeigen. Dort gibt es des Öfteren Zusammentreffen.“

Und was fühlt Rasper, nachdem die Arbeit an dem Buch beendet ist? „Dazu gehört der Beginn. Ich habe auch nach Jahrzehnten Respekt und ein wenig Muffen, dass alles wie gewünscht und geplant verläuft. Und wenn ich die Arbeit beende, ist da eine große Zufriedenheit und die Hoffnung, dass die Kunden ihr Buch glücklich übernehmen. Das ist mit das Spannendste: Vorher drüber sprechen und dann das alte neue Buch wieder zu sehen, sind wahrlich Zweierlei.“
Von Sylvia Wendt