Jobcenter-Chef Harald Glüsing im Interview über Sanktionen, Solidarität und soziale Eigenverantwortung

Über das Prinzip des Sozialstaats sowie den Spagat zwischen Fördern und Fordern spricht der Chef des Jobcenters im Landkreis Diepholz, Harald Glüsing. Die Fragen stellte Gregor Hühne.
Herr Glüsing, in der Diskussion um das kommende Bürgergeld hat das Thema Sanktionen eine zentrale Rolle gespielt. Warum hat dieses Thema eine so große Bedeutung?
Das mag daran liegen, dass das Thema Sanktionen an einer Stelle ansetzt, die für den Gesetzgeber nicht einfach zu regeln ist.
Was genau ist denn an Sanktionen so schwierig?
Nun, wir haben es aktuell bei der Grundsicherung wie auch künftig beim Bürgergeld mit Leistungen zu tun, die in finanzieller Hinsicht eine menschenwürdige Existenz sicherstellen sollen, unabhängig davon, wie es für die Betroffenen zu dieser Notsituation gekommen ist. Das ist ein wesentliches Element des Sozialstaatsprinzips: Die Solidargemeinschaft bringt mit ihren Steuern die Mittel dafür auf, um denjenigen, die ihren Lebensunterhalt nicht ohne Hilfe sichern können, finanziell eine menschenwürdige Existenz zu ermöglichen. Von solchen Leistungen noch etwas abzuziehen, birgt die Gefahr, dass das finanzielle Existenzminimum nicht mehr gesichert ist – und das darf grundgesetzlich nicht sein.
Warum dann also überhaupt Sanktionen?
Auch das hat mit dem Sozialstaatsprinzip zu tun. Denn so wie die Solidargemeinschaft mit ihren Steuergeldern einerseits die Mittel für Grundsicherung beziehungsweise Bürgergeld aufbringt, um das Existenzminimum von Menschen in einer Notlage zu sichern, kann sie andererseits erwarten, dass die Betroffenen ernsthafte Anstrengungen unternehmen, um möglichst bald wieder auf eigenen Beinen zu stehen. Hilfe in einer Notlage erhalten und sich nach Kräften zu bemühen, diese Notlage zu überwinden, sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Die Sanktionsregelungen sind, wenn Sie so wollen, eine Möglichkeit, der Erwartung einen finanziellen Nachdruck zu verleihen, dass Betroffene sich nach Kräften darum bemühen müssen, ihre Notlage zu überwinden.
Eine Möglichkeit? Gäbe es nicht auch noch andere, bessere Möglichkeiten?
Genau diese Frage steht beziehungsweise stand im Zentrum der Auseinandersetzung zu diesem Thema. Es ist nicht so, als wenn der Gesetzgeber an dieser Stelle nicht schon in verschiedener Hinsicht aktiv geworden wäre: So könnte man zum Beispiel darüber nachdenken, dass diejenigen, die keine ausreichenden Selbsthilfebemühungen zeigen, die erhaltenen Leistungen eines Tages zurückzahlen müssen. Eine solche Regelung gibt es bereits für Fälle, in denen Betroffene ihre Bedürftigkeit selbst herbeigeführt haben. Was sich auf den ersten Blick aber vordergründig noch sinnvoll anhören mag („Wer sich nicht kümmert oder selbst verantwortlich ist, der muss eben alles wieder zurückzahlen“) erweist sich auf den zweiten Blick als problematisch. Denn wenn sich mit jedem Monat, in dem Leistungen bezogen werden, entsprechende Schulden ansammeln, dann geht schnell die Motivation verloren, sich noch aus dieser Lage befreien zu wollen. Die Regelungen zur Rückzahlbarkeit von Leistungen eignen sich im Grunde nicht dazu, Selbsthilfekräfte zu motivieren.
Dann also doch lieber Sanktionen?
Vor der Grundsicherung, als noch die Sozialhilferegeln galten, hatte der Gesetzgeber keine Sanktionen vorgesehen. Stattdessen hatte er festgelegt, dass bei fehlenden Selbsthilfebemühen kein Anspruch auf Sozialhilfe besteht.
Dann gab es also gar kein Geld …?
Doch, es gab nur keinen Anspruch darauf. Das heißt, die Hilfeleistung stand im Ermessen der Sozialämter und konnte individuell geregelt werden. Zuweilen wurde dies damals überspitzt als „Hilfe durch Nichtleistung“ bezeichnet – und das macht im Grunde auch schon das Problem deutlich: Mag es sich auf den ersten Blick vordergründig sinnvoll anhören („Wer sich nicht kümmert, der bekommt Leistungen eben nur nach den Umständen des Einzelfalles“), erweist es sich auf den zweiten Blick wiederum als problematisch: Eine Leistung, die das Existenzminimum sichern soll, ist so bedeutend, dass man sie nicht einfach mal weitreichend in das Ermessen der Bewilligungsbehörde stellen kann. Deshalb hat der Gesetzgeber mit der Grundsicherung dann erstmals feste Sanktionsregelungen geschaffen, die kein Ermessen mehr vorgesehen haben – was aber auch wieder problematisch war, weil diese Regeln nicht immer ausreichend auf die Umstände des Einzelfalles Rücksicht nahmen …
… womit sich die Katze dann wohl in den Schwanz beißt. Musste es also bei Sanktionen bleiben, weil es einfach keine anderen Möglichkeiten gibt?
Möglichkeiten als solche gäbe es schon. Die Frage ist aber, wie deren Wirksamkeit von den politisch Verantwortlichen eingeschätzt wird. So ist in der Bürgergeld-Diskussion ja vielfach das Thema Vertrauenszeit bewegt worden. Das heißt, dass erst einmal nicht sanktioniert werden sollte, auch wenn jemand zum Beispiel ohne Grund einen Termin im Jobcenter nicht wahrnimmt. Eine solche Vertrauenszeit ist natürlich auch ein Ansatz: Den Betroffenen wird im vertrauensvollen Dialog bewusst, dass sie die Leistungen nicht „vom Staat“, sondern letztlich von echten Menschen erhalten, die für diese Gelder hart gearbeitet haben und sie als Steuern abgeben mussten, und dass es jetzt an ihnen ist, ihre Selbsthilfemöglichkeiten bestmöglich auszuschöpfen. Anschließend werden dann die notwendigen weiteren Schritte und die Hilfeleistungen des Jobcenters verabredet. Alles Weitere findet sich in einem Arbeitsmarkt, der dringend Fach- und Arbeitskräfte sucht – und zwar ganz ohne Sanktionen.
Klingt das jetzt nicht sehr nach heiler Welt?
Das mag vielleicht der Grund dafür sein, warum sich das Vertrauensmodell in der politischen Auseinandersetzung jetzt am Ende nicht durchgesetzt hat; weil nämlich einfach die Befürchtung zu groß war, dass zum einen ohne Sanktionsdruck bei vielen Betroffenen die Selbsthilfekräfte erlahmen könnten und zum anderen großer Unmut bei denjenigen entstehen könnte, die mit ihrer täglichen Arbeit und ihren Steuern diese Mittel unter großen Mühen aufbringen. Befürchtungen, die letztendlich nicht völlig von der Hand zu weisen sind.
Jetzt, wo wieder auf Sanktionen gesetzt wird, hat sich das mit dem Vertrauen also erledigt?
Nein, in Wirklichkeit hat es das nicht. Denn die Bezieher von Grundsicherung oder Bürgergeld einerseits und die Mitarbeiter des Jobcenters andererseits sind ja nicht daran gehindert, ihre jeweiligen Pflichten ernst zu nehmen und vertrauensvoll zusammenzuarbeiten. Wann immer das gelingt, werden Sanktionen kein Thema sein.
Ist das jetzt nicht schon wieder heile Welt …?
Nein, ist es nicht. Denn man darf nicht den Fehler machen, die Bezieher von Grundsicherung oder Bürgergeld wegen einiger krasser Einzelfälle, die von Zeit zu Zeit durch die Öffentlichkeit geistern, in irgendeiner Weise pauschal als arbeitsunwillig oder unmotiviert hinzustellen. Die aktuelle Krisenlage macht es, denke ich, für jedermann greifbar, wie schnell Situationen entstehen können, aus denen man sich ohne Hilfe nicht so einfach wieder befreien kann. Und genau das erspüren wir im Jobcenter natürlich auch bei den Menschen, die unsere Leistungen in Anspruch nehmen beziehungsweise nehmen müssen.