„Wir stören, wir eskalieren“: Vollzeit-Aktivist der Letzten Generation aus Barnstorf im Interview

Arne Springorum ist Vollzeit-Aktivist. Aufgewachsen ist er in Barnstorf. Dort hat er jetzt als Teil der Letzten Generation die Bundesstraße blockiert. Im Interview spricht er über seine Ziele und Beweggründe.
Barnstorf – Aus Überzeugung: Arne Springorum ist studierter Geologe, war selbstständig als Energieeffizienzberater. Dieses Leben hat er hinter sich gelassen. Seine Firma hat der 50-Jährige im vergangenen Jahr verkauft – um Vollzeit-Aktivist zu werden. Springorum gehört der Letzten Generation an. Er lebt mit seiner Familie in Prag. Jetzt ist er in seine alte Heimat Barnstorf zurückgekehrt, um sich gemeinsam mit weiteren Aktivisten – darunter auch seine Mutter und sein Sohn – auf der Huntebrücke auf festzukleben und so die Bundesstraße 51 zu blockieren. Im Interview mit der Mediengruppe Kreiszeitung spricht Arne Springorum über die Letzte Generation, seine eigene Überzeugung, zivilen Ungehorsam, Straßenblockaden auf dem Land und sein Verständnis für den damit einhergehenden Ärger der betroffenen Verkehrsteilnehmer.
Herr Springorum, Sie haben Ihre eigene Firma verkauft, um Vollzeit-Aktivist zu werden. Warum?
Ich habe es nie verheimlicht, dass ich Klimaaktivist bin. Ich war in Tschechien in der Industrie- und Handelskammer und habe immer zu meinem Aktivismus gestanden. Aber ich habe meine Firma verkaufen müssen, weil ich deswegen von einem der Industriebosse bei meinem Hauptkunden dort denunziert worden bin. Wir haben uns als kleine Firma gesagt, dass wir uns so etwas nicht leisten können. Also habe ich zu meinen Kollegen gesagt, dass ich ihnen mein Unternehmen verkaufe. Da hängen ja Familien an den Jobs. Wir waren fünf Leute in der Firma. Da habe ich dann die Konsequenzen gezogen – und ich glaube auch richtig. Ich kann meine Kollegen da ja nicht mit reinziehen. Seit Juli 2022 bin ich Vollzeit-Aktivist.
Sie haben also Ihre Karriere wegen Ihrer Überzeugung aufgegeben?
Aktivismus und Arbeit ist sowieso nicht gut kompatibel. Ich hatte meine Stunden zuvor schon stark reduziert. Da ist man mal wieder eine Woche weg – und die Kollegen müssen mal wieder für einen einspringen. Aber ich habe zu mir gesagt: Ich muss diese Arbeit bei der Letzten Generation aufgrund meines Gewissens machen. Ich hatte aber auch einen inneren Gewissenskonflikt: Ich müsste eigentlich auf der Straße sitzen und mich festkleben, aber ich muss auch diesem Kunden jetzt diesen Bericht schreiben. Es war also auch eine gewisse Erleichterung, als ich meinen Job aufgegeben habe. Das war aber auch schwierig. Da können Sie sich die Diskussionen mit meiner Frau vorstellen. Ich war der Hauptverdiener der Familie, jetzt ist sie es. Aber: Ich habe ein wissenschaftliches Studium abgeschlossen, ich verstehe die Klimakrise. Ich weiß, was da auf uns zukommt. Deswegen betreibe ich Vollzeit-Aktivismus.
Was kommt unmittelbar auf uns zu?
Die meisten Menschen wollen es entweder nicht wissen, oder sie können es in der Enormität nicht wissen. Es ist nicht wie Thermostat hochdrehen und wieder runterdrehen. Die Temperatur geht hoch, aber wir können sie nicht wieder runterdrehen. Da kommt eine Lawine auf uns zu, und wir können anschließend nicht sagen: „Wir wollen den Schnee wieder auf dem Berg haben.“ Das sind diese Kipppunkte, von denen wir sprechen. Es wird so sein, dass wir irgendwann kein Essen mehr haben. Das passiert in Ihrer und meiner Lebenszeit. Das sind Worte, die nicht von der Letzten Generation kommen, sondern von der Wissenschaft. Alles, was wir sagen, ist wissenschaftlich fundiert.
Was sind die Kernforderungen der Letzten Generation?
Wir haben im Prinzip Minimalforderungen. Zum Beispiel das Tempolimit: Was ist das Problem? Bei 120 km/h würden wir 6,7 Millionen Tonnen CO2 einsparen. Das ist der erste Schritt. Wenn ich auf einen Berg kommen will, stehe ich ja auch nicht davor und sage direkt, dass ich da nie hochkomme. Ich muss den ersten Schritt machen. Das sagen wir der Politik seit einem Jahr. Der Gesellschaftsrat ist seit Anfang des Monats unsere Forderung. Es gibt bereits den Bürgerrat. Das ist ein neues demokratisches Werkzeug. Die Mitglieder werden ausgelost, damit der Rat repräsentativ ist. Das ist quasi ein Deutschland in klein. Da ist der Auto-Fan aus dem Ruhrgebiet dabei, und da ist auch der Öko-Typ aus Berlin dabei.
Sie sind jetzt seit fast einem Jahr Vollzeit-Aktivist. Das Einkommen Ihres alten Jobs fällt also weg. Wovon leben Sie?
Ich lebe von Ersparnissen, ich bekomme Unterstützung von meiner Mutter und von meiner Ehefrau. Sie hat ein festes Gehalt, sie ist Grundschullehrerin in Tschechien.
Demnach stehen Ihnen jetzt deutlich weniger finanzielle Mittel zur Verfügung. Nehmen Sie das für die Sache, für die Sie sich einsetzen, gerne in Kauf?
Absolut. Wenn man erst einmal verstanden hat, worum es geht, dann ist das kein so schwieriger Verzicht. Das, was psychologisch schwierig ist, ist das Gegen-den-Strom-Schwimmen. Ich sehe das im Freundeskreis, bei Nachbarn. Der Wohlstand geht immer weiter – hier ein neues Auto, da eine Woche im Ski-Urlaub.
Reagieren die Menschen in Ihren Bekanntenkreis also kopfschüttelnd auf ihren Aktivismus?
Es ist unterschiedlich. Es gibt Leute, die unterstützen mich – auch finanziell. Ich habe zum Beispiel zu meiner ehemaligen Klasse der Graf-Friedrich-Schule gesagt, dass ich bei der Letzten Generation bin. Da sind mehrere, die jetzt monatlich 30 bis 50 Euro schicken. Nicht mir persönlich, das geht an die Organisation.
Bisher waren die Aktionen der Letzten Generation eher in Ballungszentren angesiedelt. Warum sind Sie jetzt aufs Dorf gegangen und haben in Barnstorf die Straße blockiert?
Wir haben im Januar angekündigt, dass wir ab dem 6. Februar wieder auf die Straße gehen werden – in jeder Stadt und in jedem Dorf. Das ist natürlich utopisch, aber dieser Satz ist von 300 Zeitungen aufgegriffen worden. Es geht darum, Aufmerksamkeit zu kreieren. Soweit ich weiß, ist die Blockade in Barnstorf die erste Dorfblockade, die wir machen. Wir kündigen also etwas an und halten unser Wort.
Zuletzt hieß es, dass es bei der Letzten Generation eine Kerngruppe gibt, die einzelne Aktionen absegnen muss. War das in Barnstorf der Fall?
Nein, die Letzte Generation ist durch die Regionalisierung in einer Transformationsphase. Letztes Jahr lief alles mit einer Zentralgruppe. Jetzt haben wir mehrere lokale Strategiegruppen. Die Entscheidung hier in Barnstorf eine Blockade zu machen, wurde im Bereich Oldenburg/Bremen getroffen. Es ist also keine Entscheidung, die ich allein am Wohnzimmertisch getroffen habe. Da sind Leute beteiligt, die ein grünes Licht geben.
Es kann also nicht jeder einfach so eine Straße blockieren und es als Aktion der Letzten Generation deklarieren?
Nein. Wir haben einen ganz klaren Wertekodex und Aktionskonsens. Dazu zählt die Gewaltfreiheit. Auch dass wir uns nicht wehren, wenn uns gegenüber Gewalt angewendet wird. Da muss sich jeder dran halten. Wenn du dich dran hältst, dann können wir zusammenarbeiten. Falls das für dich nicht okay ist, dann suche dir eine andere Organisation oder gründe eine. Das Spektrum ist ja da. Das war früher bei Extinction Rebellion nicht so. Da war es so, dass du dich selbst organisieren konntest.
Die Blockaden der Letzten Generation sind im Vorfeld besprochen und organisiert worden?
Das macht unsere Effektivität aus. Unsere neue Strategie bietet eine Verbindung von Top-Down und Bottom-Up. Es finden jede Woche mehrfach Infoveranstaltungen statt, wo das Top-Team alles erklärt und Fragen an- und aufnimmt. Es ist ein enger Austausch. Aber die Entscheidung findet in einem kleinen Kreis statt. Dadurch sind wir in der Lage, morgen zu sagen, dass wir die Strategie ändern, falls zum Beispiel etwas in Berlin passiert.
Wenige einzelne Akteure treffen demnach die Entscheidungen. Wie stehen Sie dazu?
Bei mehreren Hundert Leuten würden wir ja erst einmal zwei Monate lang diskutieren. Man hört auch immer wieder unterschiedliche Meinungen, aber dann wird gesagt: „Bei uns ist das aber eben so.“ Wenn du ein Problem hast, musst du dir etwas anderes suchen. Auf jeden Fall ist ein großer Aspekt die Disziplin. Warum werden Firmen hierarchisch geleitet? Weil es effektiv ist. Warum werden Armeen hierarchisch geleitet? Weil es effektiv ist. Das hat alles seine Gründe. Basisdemokratie ist toll, aber sie ist langsam.
Und die Letzte Generation kann es sich nicht leisten, langsam zu sein?
In vielen Situationen ist die Basisdemokratie genau richtig, in der Klimakatastrophe nicht. Wir haben nur ein bis zwei Jahre Zeit, sagt die Wissenschaft.
Um Aufmerksamkeit zu erlangen, greift die Letzte Generation auf den zivilen Ungehorsam zurück. Können Sie verstehen, dass Sie dadurch auf viel Unverständnis stoßen – auch medial?
Ich denke, da ist mittlerweile auch schon viel Verständnis, auch in den Medien. Wir brauchen die Medien und die Medien brauchen uns. Es sind im vergangenen Jahr 20.000 Artikel in Deutschland über die Letzte Generation erschienen. Das ist Effektivität.
Und was sagen Sie zu den Reaktionen in den Sozialen Medien? Dort tauchen regelmäßig auch Hasskommentare zur Letzten Generation auf.
Meistens reagieren wir da gar nicht drauf. Dafür haben wir gar keine Zeit.
Aber wenn Sie solche Kommentare lesen, was macht das mit Ihnen?
Ich habe mir das abgewöhnt, Kommentare zu lesen. Das bringt nicht viel. Man kann stundenlang lesen und auch antworten, letztendlich überzeugt man die Leute nicht. Die Leute werden ihre Meinung ändern, wenn deren Freunde ihre Meinung ändern. Das ist ein gesamtgesellschaftlicher Prozess. Ich stehe auf der einen Seite der Gesellschaft. Wenn ich mit jemandem sprechen möchte, der auf der anderen Seite steht, dann können wir zwar wunderbar debattieren, aber es wird höchstwahrscheinlich nicht zu einer Verhaltensänderung führen. Aber ich kann die Leute, die schon Interesse haben, einbeziehen. Da habe ich viel größere Möglichkeiten, dass sich etwas verändert.
Sie meinen also, dass man sich den Prozess, Menschen thematisch abzuholen, wie eine Leiter mit verschiedenen Sprossen vorstellen muss?
Genau, wie eine Leiter. Die zieht sich aber durch die gesamte Gesellschaft. Die Leute fangen alle an, über die Letzte Generation zu sprechen. Zurzeit sagen 84 Prozent der Deutschen, dass das, was wir machen, falsch ist. Aber alle sprechen über das Klima, und darum geht es. Es geht nicht darum, populär zu sein.
Gilt für die Letzte Generation also der bekannte Grundsatz: Es gibt keine schlechte Presse?
Gibt es nicht. Aber das gilt allgemein. Was wir in Kauf nehmen, ist, dass wir unpopulär sind. Wir wissen, warum wir das machen. Wir sind gut vorbereitet. Aus Gewissensgründen müssen wir das machen. Ich werde aber keinen beschuldigen, weil er das nicht macht, weil er wahrscheinlich nicht den gleichen Prozess wie ich durchlaufen hat.
Haben Sie Verständnis dafür, dass die von Straßenblockaden direkt Betroffenen unruhig und wütend werden?
Total. Stellen Sie sich vor, Sie haben einen wichtigen Termin. Das ist super nervig.
Und Sie wollen nervig sein?
Ja, das tut uns schrecklich Leid, aber wir stören, wir eskalieren. Und wir sind bereit, die Konsequenzen zu tragen und Opfer zu bringen. Es ist auch für uns nichts Angenehmes, den Verkehr zu blockieren. Wir gehen damit ja auch selbst Risiken ein, könnten angefahren werden. Aber es ist notwendig, was wir machen. Und die Wissenschaft steht mittlerweile voll hinter uns.
Gibt es in Ihren Augen keine Alternative zur Vorgehensweise der Letzten Generation?
Nein, weil die Politik ansonsten säuselt und sagt, sie hat alles unter Kontrolle und tut etwas, aber die Fakten sind, dass die Politik nichts macht. Die bringen ein supergeniales Neun-Euro-Ticket heraus, das 50 Millionen Menschen kaufen, und dann wird drei Monate später gesagt, dass sie es wieder auf den Markt bringen werden – aber sieben Mal teurer. Würden Sie ein Brot kaufen, das sieben Mal teurer ist? Das ist keine Verkehrswende. Zweieinhalb Milliarden Euro hat das Ticket für die drei Monate gekostet. Unser grüner Wirtschaftsminister hat für sieben Milliarden Euro LNG-Terminals hingestellt, die wir garantiert in zehn Jahren verschrotten werden. Wir fördern die fossile Industrie mit 70 Milliarden Euro pro Jahr aus Deutschland. Da soll mir keiner sagen, wir hätten kein Geld für die Verkehrswende. Ein Tempolimit kostet echt nichts.
Kommen wir noch einmal auf den zivilen Ungehorsam zurück: Wo ziehen Sie persönlich eine Grenze, an der es auch für Sie zu weit geht?
Die Grenze ist ganz klar definiert: Gewalt. Wir agieren gewaltfrei.
Alles, was sich in diesem Bereich bewegt, ist in Ihren Augen erlaubt?
Ja. Wir machen es aus moralischen Gründen. Wir wollen niemandem wehtun.
Ziviler Ungehorsam ist nur mittelbar strafbar. Was sagen Sie zum deutschen Rechtssystem in dieser Hinsicht?
Ich kann aus den Erfahrungen der vergangenen Monate sagen, dass die Justiz kämpft. Sie kämpft damit, wie sie mit uns umgehen soll. Wir produzieren ein Dilemma. Es werden Leute von uns freigesprochen, und es werden Leute in Bayern für 30 Tage ins Gefängnis gesteckt. Da ist keine klare Linie. Das heißt, es hängt vom einzelnen Richter ab. So sollte es nicht sein.
Sie fordern also eine klarere Linie?
Der Prozess der stattfindet, ist normal. Wir brauchen diesen Prozess – und auch die Dramatik, die dadurch entsteht. Das beschäftigt die Medien, das beschäftigt die Gesellschaft. Da findet Meinungsbildung statt. Und das finde ich gut. Es geht nicht darum, uns ins Gefängnis zu bringen oder rauszuholen. Das ist sekundär. Wir haben alle unsere Karrieren, das Studium auf Eis gelegt, um diesen Prozess zu unterstützen. Die Überforderung des Systems ist ein Teil unserer Strategie.
Wie gut sind Sie persönlich innerhalb der Letzten Generation vernetzt?
Ich bin sehr gut vernetzt. Es fing bei mir damit an, dass ich Extinction Rebellion im Sommer 2019 in Tschechien gegründet habe. Im Sommer 2021 hatte ich meine Zweifel an der Strategie. Und dann habe ich gehört, dass es eine neue Strategie in England gibt: Autobahnblockaden. Die Gruppe heißt Insulate Britain. An den Blockaden in England habe ich teilgenommen. Zeitgleich fand der Hungerstreik der Letzten Generation statt. Das war im Herbst 2021. Die Letzte Generation hat in Deutschland im Januar 2022 angefangen zu blockieren. Da haben wir in Tschechien auch Blockaden gehabt. Wir sind alle miteinander vernetzt. Im Juni 2022 habe ich mich das erste Mal einer Blockade in Berlin angeschlossen.