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Inklusion in Bremen: Chancen fürs Leben

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Von: Steffen Koller

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Eine Frau sortiert Autoteile.
Einzige Frau in der Schicht, eine von insgesamt vier Frauen im ganzen Betrieb: Manuela Brünjes. © Koller

Integra Automotive zählt zu den wichtigen Zulieferern für das Sebaldsbrücker Mercedes-Werk. Integra ist ein Inklusionsbetrieb und ist von der Stiftung Martinshof ausgezeichnet worden.

Bremen – Mike Lorenz wäre heute womöglich arbeitslos und auf staatliche Transferleistungen angewiesen, seine Kollegin Manuela Brünjes fände sich wohl bei einer Zeitarbeitsfirma wieder, bei der es nach wenigen Wochen hieße: „Und tschüss, ab zum nächsten Unternehmen.“ Doch beide stehen heute in Lohn und Brot, arbeiten im Schichtsystem, werden nach Tarif bezahlt – und das trotz ihrer Einschränkungen.

Möglich macht das Integra Automotive, ein Inklusionsbetrieb des Bremer Martinshofs, ohne den das nahegelegene Mercedes-Werk ganz schön aufgeschmissen wäre.

Eine Halle voll mit Kisten, meterhoch gestapelt. Es knallt, es rumst, wenn Gabelstapler die kiloschweren Boxen auf dem Metallboden zum Liegen bringen. An mehreren Stellen scannen Mitarbeiter Lieferscheine, packen im Anschluss Fußmatten, Wagenheber, Verkleidungen für Fensterrahmen und Einstiegsleisten zusammen. Jedoch nicht wahllos – sondern „just in sequence“, wie es in der Logistik heißt. Bedeutet: Die Ware wird nicht nur zeitgenau in der richtigen Menge geliefert, sie muss auch mit der Reihenfolge der Montagesequenz übereinstimmen. „Logistisch ist das schon eine Herausforderung“, sagt Betriebsleiterin Viola Vogt (31).

„Just in sequence“

Das nur fünf Minuten entfernte Mercedes-Werk produziert jährlich mehr als 300 000 Fahrzeuge. Da braucht es Nachschub fürs Band und vor allem: ohne Verzögerung. Mitverantwortlich dafür sind knapp 60 Mitarbeiter von Integra Automotive, einem Dienstleister des Martinshofs, der wiederum seit rund 35 Jahren mit Mercedes zusammenarbeitet. Etwa die Hälfte der Angestellten ist körperlich beeinträchtigt. Sie sind gehörlos, Epileptiker, erkrankten bereits als Kind schwer oder kämpfen mit den Folgen gravierender Rückenleiden. Andere von ihnen sind langzeitarbeitslos, kurz vor der Rente schwer in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren oder fassen in Deutschland gerade Fuß. Insgesamt 18 verschiedene Nationalitäten vereint der Inklusionsbetrieb, ohne den viele Angestellte heute wohl von Arbeitslosengeld leben müssten. Ob gewollt oder nicht.

Ein Mann in der Montagehalle.
In der Montagehalle von Integra Automotive: Mike Lorenz sieht die Anstellung als „Riesenglück“. © Koller

Jährlich verlassen mehrere Millionen Teile die Halle an der Georg-Gries-Straße, 2021 waren es 3,28 Millionen Komponenten. Damit das auch reibungslos klappt, sind die Arbeitsplätze zum Teil den jeweiligen Stärken und Schwächen der Beschäftigten angepasst, sagt Vogt, die den Betrieb seit rund sieben Jahren leitet. Menschen mit Rückenleiden müssten sich nicht bücken, solche mit Gehbehinderung hätten entsprechend kurze Wege. „Jeder arbeitet nach seinen Fähigkeiten. Wer durchpowern möchte, kann das tun. Andere arbeiten langsamer, dafür kontinuierlich“, sagt Vogt. Auch wenn stets „auf die tagesaktuelle Stimmung“ Rücksicht genommen werde, sei ein gewisser Druck dennoch da. Vogt: „Die Teile müssen pünktlich geliefert werden.“

3,28 Millionen Komponenten

Dieser Mix begeistert auch Mike Lorenz (53) und Manuela Brünjes (52). Während Manuela lange Zeit als Altenbetreuerin arbeitete, Senioren vorlas oder mit ihnen spazieren ging, „das alles aber irgendwann nicht mehr funktionierte“, drohte ihr wie Mike Lorenz, einst als Begleiter von Schwerbehinderten am Bremer Airport angestellt, die Arbeitslosigkeit. Beide bewarben sich, machten ein Praktikum – und sind mittlerweile fest angestellt. Mike bereits seit fünf Jahren, was er rückblickend „als Riesenglück“ empfindet, zumal er in seinem Alter und mit der Diagnose Diabetes Typ 1 seiner Erfahrung nach kaum einen Job bekommen hätte. Manuela ergänzt: „Ich bin so begeistert. Alle sind nett, hilfsbereit – ein tolles Team!“

Alle 90 Minuten verlassen drei beladene Lastwagen das Areal und machen sich auf den Weg Richtung Bremens größten privaten Arbeitgeber mit rund 12 500 Beschäftigten. Tobias Kieselhorst ist daran beteiligt. Er packt Bordwerkzeug in graue Kisten, immer genau so, wie sie später in den verschiedenen Modellen vorhanden sein müssen. Seit zwei Monaten absolviert der 34-Jährige ein Praktikum bei Integra Automotive, das Ende 2021 mit dem „Förderpreises Inklusion“ der Stiftung Martinshof ausgezeichnet wurde. Sein Ziel: Trotz Epilepsie einen Job außerhalb spezieller Maßnahmen finden. Und das langfristig. Wesentlich länger dabei, genau genommen „seit der ersten Fußmatte“: Jens Sommer, der als Schichtleiter „eine unendliche Kette“ an Aufträgen verteilt, Sendungen koordiniert und von der Kanzel der Halle alles im Blick hat.

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