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Das Grauen ab Kilometer 21: Der erste Marathon meines Lebens – ein Selbstversuch

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Von: Marcel Prigge

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Ein müder Läufer, der während eines Marathons im Gras sitzt
Völlig fertig: Nie in meiner Marathon-Vorbereitung ging es mir so schlecht, wie beim Rennen selbst. © Marcel Stolle

Der erste Marathon ist etwas Besonderes. Vor allem besonders anstrengend. Ich habe es trotzdem versucht. Ein Erfahrungsbericht des Werderseelaufes 2023.

Bremen – Das erste Mal einen Marathon laufen und unter jubelnden Massen ins Ziel zu kommen. Das ist jährlich der Wunsch von vielen Menschen. Ich habe mich der Herausforderung meines ersten Marathons gestellt. In Bremen nehme ich als Hobbyläufer nach einer sechsmonatigen und mehr als 780 Kilometer umfassenden Marathon-Vorbereitung am Werderseelauf 2023 teil. Das ist mein Erfahrungsbericht.

Der erste Marathon meines Lebens: Ein schmerzhafter Selbstversuch

Was habe ich mir nur dabei gedacht? Wieso tut mir alles weh? Und warum ist mir so schwindelig? Eigentlich bin ich fit und vorbereitet gewesen. Das dachte ich zumindest. Jetzt habe ich derartige Krämpfe, dass ich meine Beine nicht mehr anwinkeln kann, irgendetwas sticht in meinen Magen und an das Laufen ist seit etlichen Kilometern nicht mehr zu denken. Zugegebenermaßen, mein persönlich auserkorenes Ziel, meinen ersten Marathon in einer Zeit unter vier Stunden zu laufen, ist schon etwas hochgegriffen gewesen. Doch während des Werderseelaufs 2023 am 19. März sah zunächst wirklich alles gut aus. Doch von Anfang an.

Die Anspannung fällt ab: Endlich beginnt der Werderseelauf 2023

Der Werderseelauf ist im Vergleich zum Bremer Urgestein – dem SWB-Marathon – ein kleiner Lauf. In allen Distanzen zusammengenommen haben sich rund 900 Personen angemeldet. Um 9:30 Uhr am Sonntagmorgen stehe ich mit noch viel weniger Menschen – mit etwa 40 Personen – im Start-Bereich. Die Ultraläufer, die 50 Kilometer absolvieren, sind kurz vor uns Marathonis gestartet, sodass wir erst einmal eine freie Strecke vor uns haben. Die Staffelläufer auf Marathon-Distanz kommen nach uns, sodass sie uns überrunden werden. Alles in allem wird es heute also trotzdem voll am Bremer Werdersee.

Die Teilnehmer der Marathon-Distanz beim Werderseelauf 2023 stehen an der Startlinie.
Morgens, halb zehn in Bremen: Die Teilnehmer der Marathon-Distanz beim Werderseelauf 2023 stehen an der Startlinie. © Marcel Prigge

Pünktlich startet das Event, auf das ich mich mehr als sechs Monate lang vorbereitet habe. Die eigene Anspannung fällt ab, die Menschen am Start jubeln den Läufern zu und die ersten Kilometer fliegen nur dahin. Mit einem wachenden Blick auf die Pulsuhr gerichtet, versuche ich mich in ein entspanntes Tempo einzulaufen, denn nichts ist schlimmer, als zu schnell zu starten und später keinen Saft mehr zu haben.

Bei wirklich perfekten Bedingungen – etwa zehn Grad, leicht bewölkt, leicht windig – geht es um den Werdersee herum. Das Tempo ist angenehm genug, um sich zu unterhalten und es scheint ein wirklich, wirklich guter Tag zu werden. Meine Pace pendelt sich von anfänglichen rund 5:50 Minuten pro Kilometer auf 5:40 Minuten ein und ich fühle mich großartig.

Werderseelauf 2023: Die ersten Runden läuft es wie geschmiert

Nach der ersten Runde, bei der wir allesamt einen kleinen Extra-Abstecher gemacht haben, um auf rund 10 Kilometer zu kommen, sehe ich meine Freunde im Zielbereich wieder, die tatsächlich Pappschilder für mich gebastelt haben. Neben „Run Fatboy Run“ (ich habe durch das ganze Laufen tatsächlich nicht abgenommen) lese ich „The End Is Near“ (glatte Lüge) und „Wer nicht kotzt, läuft nicht am Limit“ (dann vermeide ich heute wohl mein Limit).

Läufer beim Werderseelauf 2023
Es läuft wie geschmiert: Die ersten 10 Kilometer des Marathons sind absolut kein Problem. © Marcel Stolle

Während ich das lese, fällt mir ein, dass ich noch nichts gegessen habe. Anfängerfehler! Man braucht Energie, um die 42 Kilometer durchzuhalten. Die Verpflegungsstationen am Rand sind einladend und gut bestückt. Neben Bananen, Keksen und auch Gurken, gibt es auch Gummibärchen, Cola und Wasser. Ich entscheide mich natürlich für jeglichen Süßkram. Wie New York Times-Bestsellerautor und Ultraläufer Matthew Inman bereits schrieb, verwandelt man sich beim Laufen nicht in einen athletischen Körper. Sondern aufgrund der merkwürdigen Nahrungsaufnahme eher in einen sich langsam bewegenden Müllwagen.

Auch die kommende Runde stellt kein Problem für mich dar und nach 21 Kilometern wird mir klar: Eine gute Marathon-Zeit ist tatsächlich möglich. Der Halbmarathon in etwas über zwei Stunden ist auf der Haben-Seite. Und ich fühle mich wirklich gut. Solange, bis es mir plötzlich wirklich, wirklich schlecht geht.

Das Grauen ab Kilometer 21: Der Marathon in Bremen wird zur Qual

Zunächst kommt der Schmerz schleichend, dann trifft er mich wie ein Hammer. In der Magenregion tut es stichartig weh. Alles klar, nur keine Panik, denke ich mir. Extra deshalb bin ich ernährungstechnisch keine Risiken eingegangen, habe nur das gegessen, was ich bereits im Training verputzt habe. Nur im Training gingen auch aufkommende Schmerzen nach einer kurzen Gehpause wieder weg. Diese Magenprobleme werden mich jedoch noch begleiten. Lange begleiten.

Nachdem ich langsamer werde und nach der dritten Runde wieder im Zielbereich ankomme, ruhe ich mich für kurze Zeit aus. Ich weiß, normalerweise sollte man sich während eines Marathons nicht unbedingt hinsetzen – das Aufstehen fällt einem immer schwieriger – aber es geht nicht mehr. Denn durch die Schmerzen im Magen veränderte sich leider auch mein Laufverhalten, das wiederum wirkte sich auf meine Muskulatur aus. Ich laufe unrund. Und deshalb bekomme ich Krämpfe. Krämpfe ab Kilometer 26. Auch diese behalte ich bis zum Ende des Rennens.

Das Rennen mit der Zeit – oder: Wie mich eine 84-Jährige beim Werderseelauf überholte

Natürlich setzt dann die Panik und damit auch die unangenehmen Fragen ein. Habe ich mich nicht gut genug vorbereitet? Wieso habe ich jetzt solche Schmerzen? Und natürlich der Klassiker: Warum mache ich das jetzt noch und gehe nicht einfach nach Hause? Fakt ist: Normalerweise geht es mir bis Kilometer 30 relativ okay. Jetzt aber bin ich der menschgewordene Wadenkrampf. Jederzeit bereit, mit einem Rollstuhl von der Strecke gefahren zu werden.

Alle, die halbwegs gleich mit mir auf waren, sind natürlich bereits längst an mir vorbeigezogen. Der lockere Läufer mit dem orangen Shirt und weißem Laufrucksack: weg. Der junge Typ komplett in Schwarz, der immer mal wieder Gehpausen eingelegt hat, um dann wieder loszuspurten: hat mich auch nass gemacht. Nur eine Frau überholt mich und bleibt dann vor mir: die 84-jährige Renate H.

Renate H., Jahrgang 1939, läuft ihr ganz eigenes Rennen. Wie wir alle vor dem Rennen vom Veranstalter mitbekommen hatten, versuchte sie mit ihren 84-Jahren die Ultramarathondistanz von 50 Kilometern in weniger als sieben Stunden zu schaffen. Und diese beeindruckende Frau ist jetzt vor mir und weist mich in meine Schranken. Aber das immerhin in Sichtweite.

Werderseelauf ab Kilometer 34: Wenn der Magen, die Muskeln und dann auch das Wetter nicht mehr mitmachen

Ich brauchte 7:30 Minuten pro Kilometer. Dann sind es irgendwann acht Minuten. Bei Kilometer 34 komme ich ein letztes Mal im Zielbereich an und falle kurzerhand auf die Rasenfläche neben dem Verpflegungsstand. Was ist nur heute los? Ich habe noch acht Kilometer vor mir und wollte jetzt, nach knappen vier Stunden, eigentlich schon im Ziel sein. Als hätte mein Jammern jemand gehört, fängt es plötzlich an zu regnen. Jeder Motivationsrest ist erloschen, ich habe einfach keine Lust mehr.

Eine Regenwolke über Bremen
Von wegen perfektes Wetter: Nach vier Stunden Laufen überraschte eine Regenfront die übrig gebliebenen Läufer. © Marcel Prigge

Ich beschließe, nach Hause zu gehen. Aber nicht ohne den acht Kilometer langen Umweg um den Werdersee zu machen. Also schnappe ich meine Windjacke, die nach exakt einer Minute durchgeregnet ist, und mache mich wieder auf den Weg.

Die letzten Kilometer des Marathons: Humpelnd geht es auf die Zielgeraden zu

Kilometer 36. Kilometer 37. Kilometer 38 – langsam, aber sicher komme ich meinem Ziel näher. Mir wird schwindelig und schlecht, und wenn ich versuche, loszulaufen, wird es am Rand meines Sichtfeldes schwarz. Spätestens jetzt sollte ich eigentlich abbrechen. Aber ich kann einfach nicht. Für einen Kilometer brauche ich mittlerweile mehr als 9 Minuten. Egal, ich will einfach nur nach Hause. Renate H. ist auch schon weg und leider nicht mehr zu sehen. Auch die 84-Jährige werde ich heute nicht mehr einholen.

Läufer, die sich über die Ziellinie des Werderseelaufes bewegen
Die letzten Meter: Nach mehr als fünf Stunden komme ich endlich im Ziel an. © Marcel Stolle

Und irgendwann sehe ich das Ziel. Ich schaue auf meine Uhr und tatsächlich, es sollen nur noch wenige Meter sein. Keine Halluzinationen, keine Wahnvorstellung, einfach nur der rote, aufgeblasene Plastikbogen, der das Ziel markiert. Die letzten Meter laufe ich – oder ich versuche so auszusehen, als könnte ich noch laufen. Und so kommen ich, mein schmerzender Magen und meine krampfenden Waden und Oberschenkel, an. Eine Medaille wird für mich herausgekramt und mir umgehangen.

Meine Freunde sind sogar auch noch da und haben sich vom Regen nicht abschrecken lassen. Glückwünsche und die Bemerkung, dass sie während meiner Qualen Bier getrunken und einen Rollo verdrückt haben, nehme ich gerne entgegen. Ich lasse mich aufs Gras fallen und bin mit satten 5 Stunden und 7 Minuten einer der letzten Marathonläufer, die heute ankommen. Aber ich bin ein offizieller Marathonläufer.

Ein sehr müder kreiszeitung.de-Redakteur nach seinem Marathon.
Das Ende ist nah und diesmal stimmt es auch. Nach dem Marathon bin ich nur noch müde – und am Ende. © Marja Weustemaat

Werderseelauf 2023 und mein erster Marathon: Fazit des Rennens

Ein paar Tage sind seitdem vergangen. Schmerzen habe ich mittlerweile nur noch sporadisch – es zwickt im rechten Fuß und in der linken Wade. Es könnte also schlimmer sein. Renate H. ist nach mir noch eine Runde weiter gelaufen. Sie hat die Sieben-Stunden-Marke einhalten können und ist mit 6 Stunden und 54 Minuten ins Ziel eingelaufen. Wie ich später erfuhr, hat sie bereits in der Vergangenheit einen deutschen Rekord in einem 24-Stunden-Lauf über 145,5 Kilometer aufgestellt.

Die Medaille des dritten Werderseelaufes in Bremen
Irgendeinen guten Platz muss sie bekommen: die hart verdiente Medaille des dritten Werderseelaufes in Bremen. © Marcel Prigge

Ich habe mich derweil mit meiner Zeit-Niederlage abgefunden und freue mich, überhaupt angekommen zu sein. Woran es genau lag, dass ich so sehr eingebrochen bin, konnte mir bis jetzt keiner genau sagen. Fakt ist aber, dass es für mich weiter geht. Das Ziel, einen Marathon unter vier Stunden zu laufen, steht. Und angemeldet bin ich auch schon.

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