Bremen: Psychiaterin hält Armbrust-Schützen für vermindert schuldfähig

Fortsetzung im Prozess um die Schüsse aus einer Armbrust an einer Schule in Bremerhaven: Die Psychiaterin hält den Schützen (21) für vermindert schuldfähig.
Bremen – An diesem achten Verhandlungstag, dem letzten Tag der Beweisaufnahme, wird der Angeklagte deutlich: „Können Sie verbrennen“, antwortet der 21-Jährige auf die Frage, ob er all die Sachen zurückerhalten möchte, die er am Tattag benutzt hat: Armbrust, Pistole, Messer, Munition, Bekleidung. Berkan S. ist angeklagt, am 19. Mai vergangenen Jahres im Bremerhavener Lloyd-Gymnasium die Schulsekretärin mit zwei Armbrust-Pfeilen schwer verletzt und danach in der Stadt zwei weitere Menschen nur knapp verfehlt zu haben.
Das Geschehen in der Stadt spielt in diesem Prozess keine Rolle mehr; die Große Strafkammer 22 des Landgerichts hat beide Tatkomplexe als eine prozessuale Tat gewertet und das wahllose Abschießen der Pfeile ist per se nicht strafbar. Umso gründlicher wird der Ablauf in der Schule und die Zeit davor durchleuchtet.
Armbrust-Schütze: Wollte der junge Mann seinen Tod provozieren?
Nach dem bisherigen Ergebnis der Beweisaufnahme wollte sich der junge Mann, der seit Jahren unter Depressionen und einer sozialen Phobie leidet, umbringen. Nach einem fehlgeschlagenen Versuch entschloss er sich zu einem „Suicide by cop“, wollte also provozieren, dass er von Polizeibeamten erschossen wird. Drei Jahre lang war er immer mehr vereinsamt, hatte sogar soziale Kontakte innerhalb der Familie abgebrochen, war in Selbstmord- und in Waffen-Foren unterwegs gewesen. Er entschloss sich, eine semi-professionelle Armbrust für 380 Euro zu kaufen, erwarb weitere „Pfeile, die cool aussahen“, und martialisch anmutende Kleidung.
Das mag nach einem planvollen Vorgehen aussehen, war es aber nicht, sondern ein inneres Hin und Her. Die Kleidung schickte er zurück, die Armbrust bot er noch einen Tag vor der Tat für 320 Euro bei Ebay an. Ein „Internetfreund“ habe auf ihn eingewirkt, von seinem Vorhaben abzulassen – mit Erfolg. „Ich wollte einfach so weiterleben“, sagt er vor Gericht.
Dann die Kehrtwende: Nach einem Streit am Telefon über Geld, das er dem Vater entwendet hatte, entschloss er sich zu handeln: „Dann mache ich das jetzt einfach.“ Im Sekretariat – das hatten mehrere Zeugen bestätigt – fragte er nach seiner ehemaligen Lehrerin.
Gutachterin: Der Angeklagte lastet Lehrerin Versagenssituation an
Sie, so die Sachverständige später, setzte er mit seinem Scheitern und den gefühlten Kränkungen gleich. Die Lehrerin hatte ihn, als er noch auf der Schule war, aufgefordert, eine Hausaufgabe seinen Mitschülern vorzulesen. Als er sie bat, das nicht tun zu müssen, sie aber darauf bestand, weigerte er sich – obwohl er den Aufsatz verfasst hatte. Die Lehrerin verwies ihn daraufhin des Klassenraums. „Drei Jahre lang war er auf die Versagenssituation fokussiert, hat er dies der Klassenlehrerin angelastet“, erklärt die Gutachterin, eine Psychiaterin, die Vorgeschichte der Tat.
Armbrust-Schütze fühlt sich „ wertlos, nutzlos, unsichtbar“
Berkan S. verließ die Schule ohne Abitur. „Er hat sich aus der realen Welt zurückgezogen“, beschreibt es die Sachverständige, „er fühlte sich wertlos, nutzlos, unsichtbar – nicht existent.“ Die Depressionen, derentwegen er auch in Behandlung war, und seine Sozialphobie trugen ihr Übriges zu seiner Situation bei. Mit einer „großen Inszenierung“ habe er Gerechtigkeit herstellen wollen, erklärt die Sachverständige. Dabei sei es ihm nicht um die Verletzung von Menschen gegangen, sondern darum, „dass sie Angst oder Respekt vor ihm haben und sagen, dass es ihnen leidtut“. Als dann die Reaktion der Lehrer und der Schulsekretärin nicht dementsprechend ausfiel, war das, so der 21-Jährige, die „Bestätigung, dass ich nicht existiere“. Als sein Plan nicht aufging, „wusste ich nicht, was ich machen sollte“, erklärt er. Warum er schließlich geschossen habe, wisse er bis heute nicht, „das kann Ihnen eher die Sachverständige sagen“. Deren Erklärung, sagt er später, „hört sich plausibel an“.
Er ist nun in der Forensik untergebracht, „therapiemotiviert und will verstehen, was passiert ist“, so die Gutachterin, die den Angeklagten als vermindert schuldfähig ansieht. Somit könnte er im Urteil zu einem Aufenthalt im Maßregelvollzug verurteilt und dort weiter therapiert werden. Im Maßregelvollzug sieht er auch selbst seine Chance: „Ich bin glücklich da“, antwortet er auf die Frage der Vorsitzenden. Der Prozess wird am Montag, 27. Februar, mit den Plädoyers fortgesetzt.