Politik und der weibliche Blick

Vierte „RAW“ Fototriennale Worpswede beginnt am Samstag, 18. März.
Worpswede – Ab Samstag wehen sie wieder, die lila Fahnen der „RAW“ in Worpswede – und mit ihnen der Spirit kontemporärer internationaler Fotografie, die den Künstlerort ab dem heutigen „Soft Opening“ mit freiem Eintritt bis zum 11. Juni zum Mekka der Fotokunst macht. Gleich vorweg: Der angekündigte frische Wind, den das neue, vierköpfige Kuratorium in die vierte Ausgabe des mittlerweile im Dreijahresturnus abgehaltenen ambitionierten Formats mit sieben Ausstellungen und 48 Künstlern bringen soll, er ist tatsächlich mehr als ein laues Lüftchen.
Das diesjährige Motto „Turning Point, Turning World“, das sich laut Mitinitiator Jürgen Strasser angesichts von Kriegen, Krisen, Umweltzerstörung und Migration „geradezu aufgedrängt“ habe, bildet die große Klammer für vier Schwerpunkte, jeder thematisch in einer Linie mit dem Museum, in dem er gezeigt wird: die größte, #RISK, in der Großen Kunstschau als Ort für große Wagnisse, das Heinrich-Vogeler-Museum im Barkenhoff mit #NEXT visionär und #EGO im Haus im Schluh mit persönlichen Geschichten. Die Kunsthalle knüpft mit #FAKE in der Auseinandersetzung mit politischen Themen an die DDR-Ausstellung der letzten Ausgabe an.
In jedem Fall halten die Schlagwörter mehr, als die plakativen Begriffe versprechen: Bei #EGO geht es nicht um die bloße Beschäftigung mit dem eigenen Ich – das Selbstbildnis ist nur ein Ausgangspunkt auf der Suche nach dem eigenen Platz in der Gesellschaft. Die vier Werkreihen verhandeln Identitäten, fast in allen Fällen mit Migrationshintergrund – der eigenen, der der Familie oder anderer. Silvia Rosi inszeniert sich selbst in leuchtenden Farben mit viel Symbolkraft in der Einwanderungsgeschichte ihrer togolesischen Eltern, dem ersten Job des Vaters bei der italienischen Tomatenernte oder der Tradition des Tragens von Lasten auf dem Kopf, die von Mutter zu Tochter weitergegeben wird. Amak Mahmoodian setzt minimalistich Passfotos iranischer Frauen für offizielle Dokumente in Szene – erst bei näherem Hingucken manifestiert sich unter den Kopftüchern das Individuelle. Besonders eindringlich: Die beiden winzigen aussortierten Fotos, allein an einer riesigen Wand: Fast brutal verdeutlicht der Eddingstrich über hervorlugende Haare oder Augen mit Lidschatten, was von der Regierung nicht toleriert wird.
Vier thematische Schwerpunkte an vier Ausstellungsorten
Um den Umgang mit Frauen und ihrer Religion geht es auch bei Prarthna Singh in der Großen Kunstschau, die die friedlichen Proteste muslimischer Frauen in Sitzstreiks gegen die staatliche Unterdrückung dokumentiert hat. Der Hashtag RISK bekommt eine vielschichtige Bedeutung: Ebenso wie viele Porträtierte, etwa der junge Mann aus Tel Aviv, der sich von seiner jüdisch-orthodoxen Gemeinschaft abnabelt und damit soziale Ausgrenzung und Einsamkeit in Kauf nimmt, nehmen auch viele Fotografen erhebliche Risiken auf sich – bei der Entstehung der Fotos oder ihrer Veröffentlichung. Bilder, die die aktuellen Gräueltaten des iranischen Regimes dokumentieren, werden systematisch von der Regierung aus den Sozialen Medien entfernt.
Die Iranerin Hoda Afshar hält die verpixelten „Poor Images“ mit Fotoinstallationen auf riesigen Bannern im kollektiven Bewusstsein: „Es geht nicht ums perfekte Bild, sondern um die Aussage“, betont Kuratorin Julia Bunnemann. Ebenso wichtig sei die Beziehung zwischen Fotograf und Porträtiertem.
Darüber hinaus suchen viele Künstler den Diskurs mit Wissenschaftlern, um ihre Zeugnisse etwa der Umweltzerstörung zu untermauern: Marina Canveve in „The Flood“ über die Auswirkungen des Klimawandels in einem norditalienischen Dorf; die Niederländerin Suzette Bousemas hat es sich bei „Dead Zones“, toten Gebieten in der Ostsee, zur Aufgabe gemacht, abstrakte wissenschaftliche Ergebnisse zur Naturzerstörung in greifbare Bilder zu fassen. Ihre Sedimentbilder vom Meeresgrund werden, wie einige Werke der RAW, zum ersten Mal in Deutschland oder überhaupt gezeigt.
Künstlerinnen und Künstler positionieren sich so politisch wie selten
Neben der politischen Stellungnahme, mit denen viele der Künstler sich so deutlich wie selten positionieren, fällt noch ein weiterer Trend auf: Die zunehmende Abkehr von der „reinen“ Fotografie hin zu einer multimedialen Annäherung an das jeweilige Thema – oft mit Videointerviews oder -installationen, Texten, aber zuweilen auch einer radikalen Bearbeitung der Bilder. So löst Siu Wai Hang das Dilemma, beim Dokumentieren der Proteste in Hongkong durch Gesichtserkennungstools zum Denunzianten zu werden, indem er sämtliche Gesichter ausstanzt und nicht nur das Problem visualisiert, sondern auch die Grenzen des Mediums auflöst.
Auch die Ausstellung #FAKE stellt die traditionelle Sichtweise auf die Fotografie infrage: „Eine Trennung zwischen ‚Fake‘ und ‚echt‘ gibt es nicht“, stellt Zurborn klar; die präsentierten Werke bilden eine inszenierte Schnittstelle zwischen Fiktion und Wahrhaftigkeit. Die digitalen Bearbeitungen von Archiv-Fotografien der 50er und 60er Jahre, mit denen Weronika Gesicka den „American Way of Life“ transfomiert, machen zum Teil Spaß, andere verstören; Max Pinckers‘ Hinterfragen „alternativer Fakten“ während der US-Präsidentschaftswahlen verschachteln Dokument und Inszenierung.
Infos und Termine
„RAW“ in Worpswede bis zum 11. Juni in der Großen Kunstschau, im Barkenhoff, im Haus im Schluh und in der Kunsthalle. Zusätzlich gibt es Sonderausstellungen in der Galerie Altes Rathaus, in der Tourist-Information oder Open Air auf der Marcusheide. Zahlreiche Vorträge, Führungen und Gesprächsrunden ergänzen das Programm. Viele der Inhalte werden auf der Plattform „RAW-frei-Haus“ online gestellt.