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Überfällige Intervention

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Von: Rolf Stein

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„Machst mir noch eins?“: Wirtin Simone und Alexander Swoboda als Vandam. - Foto: Jörg Landsberg
„Machst mir noch eins?“: Wirtin Simone und Alexander Swoboda als Vandam. - Foto: Jörg Landsberg

Bremen - Von Rolf Stein. Geschehen am Ende doch Zeichen und Wunder –  kleine Wunder zumindestens? Eine Pflegerin aus dem Heim für Demenzerkrankte in Bremen Blumenthal, die wir auf dem Weg zum Wollkämmerei-Gelände treffen, war nach eigener Aussage noch nie zuvor in einer Theateraufführung.

Zur Premiere des „Auswärtsspiels“ am Freitag ist es dann endlich so weit. Der Sezen-Aksu-Liederabend „Istanbul“, seit seiner Premiere im Dezember ein echter Dauerbrenner im Kleinen Haus am Goetheplatz, gastiert im sogenannten Herrenhaus auf dem Gelände der Bremer Wollkämmerei. Da muss also erst das Theater in den Norden der Stadt kommen, um Menschen zu ihrem ersten Theaterbesuch zu bewegen. Was natürlich weniger etwas über die geografische Distanz zwischen Blumenthal und Bremen-Stadt erzählt als über die gefühlte Entfernung.

In diesem Sinne war es längst überfällig, dass sich die Künstler, Handwerker, Dramaturgen, Musiker vom Bremer Theater aufmachten, um den in den letzten Jahrzehnten recht gründlich gebeutelten und wirtschaftlich einigermaßen ausgebluteten Stadtteil kulturell zu beleben.

Im Ortsamt beginnt es, das Spiel mit dem Leerstand, der Um- und Anverwandlung. Das einstige Rathaus des Ortsteils steht seit Jahren weitgehend leer. Für zwei Wochenenden ist es nun Treffpunkt, Museum, Erholungsort, Festivalzentrum. Hier beginnen auch die inszenierten Spaziergänge, die Besucher und Bewohner zusammenbringen, zum Beispiel beim gemeinsamen Singen im alten Wasserturm. wofür immerhin gut 80 Stufen zu steigen sind, oder an einer riesengroßen Carrera-Bahn, die – man kann es nur mit Bedauern zur Kenntnis nehmen – nur noch bis Ende August in einer ehemaligen Sparkasse residiert. Die Zukunft? Ungewiss. Oder beim Friseur, der, so sagt er, ganz bewusst vor zwei Jahren seinen Salon an der einstigen Flaniermeile Mühlenstraße angesiedelt hat. Oder bei der Verschönerung eines Parkplatzareals, gemeinsam mit einer quirligen Kinderhorde vom sogenannten sozialen Brennpunkt nebenan.

Dabei sind die Begegnungen der „Bloomtag Walks“ von ihrem Kreateur Martin Thamm eher im kleinen Kreis arrangiert. So kommt man leichter ins Gespräch. Und überhaupt: Waren Sie zum Beispiel schon einmal in einem Türkischen Kulturverein? Theater als Ort der Begegnung – das  ist hier nicht nur eine Phrase.

Vom Fahrstuhlfahren bis zur Intimrasur

Was durchaus auch für die Inszenierungen im engeren Sinne gilt. „Istanbul“ bekommt noch einmal eine besondere Note. Aber nicht zuletzt sei auf die „Nationalstraße“ nach dem gleichnamigen Roman von Jaroslav Rudi hingewiesen, die Theresa Welge in die Kneipe „Mix-It“, ja, gezaubert hat. Alexander Swoboda vom Bremer Schauspielensemble erweckt die Hauptfigur des Romans, jenen belesenen Proleten, diesen beredten Schwadroneur, der ungefragt seine Philosophie ausbreitet und nicht davor zurückschreckt, auch mal zuzuschlagen, beherzt rülpsend und saufend zu intensivem Leben. Kernthese dieses kunstvoll hyperrealistischen Monologs: Verweichlichung ist unser Untergang, vom Fahrstuhlfahren bis zur Imtimrasur. Sein Rezept: Liegestütze, Treppensteigen, Gehen statt Straßenbahn. Härte zeigen. Swoboda scheint dabei geradezu mit seiner Figur, mehr noch: mit dem Raum zu verschmelzen, der das natürliche Habitat jenes Vorstadthelden aus Jaroslav Rudis’ Roman zu sein scheint. Pöbelnd, kumpelnd, provozierend. Man darf gespannt sein, wie das in der nächsten Spielzeit als abendfüllende Produktion funktioniert. Und wünscht sich, diese faszinierende Miniatur öfters sehen zu dürfen. Für erste ist am kommenden Samstag um 15 Uhr die letzte Gelegenheit.

Die Abende in Blumenthal klingen dieser Tage mit Straßenmusik auf dem Marktplatz aus, zur Eröffnung am Freitag sorgte dafür ein Bürgerchor, danach gab es einen Grundkurs in kurdischem Tanz, das letzte Lied gehörte – ganz spontan – dem türkisch-kurdischen Dialog.

Und übrigens: Natürlich ist das alles wunderbar, aber doch weniger ein Wunder als ein Zeichen – nämlich eines für die Notwendigkeit dieser Art kultureller Intervention.

„Auswärtsspiel“: Freitag bis Sonntag, ab 14 Uhr. Alle Termine im Internet: www.theaterbremen.de

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