„Mensch, Puppe!“ zeigt „Dracula“

Bremen - Von Katia Backhaus. „Der Vampir ist überall dort, wo Menschen leben. Er stirbt nicht aus.“ Der Vampir, ein ewig düsteres Wesen, geboren aus dem menschlichen Abgrund? Leo Mosler lädt in roter Livree, mit übereinandergeschlagenen Beinen im Grafensessel, zu Beginn von „Dracula“ nach Bram Stoker im Bremer Figurentheater „Mensch, Puppe!“ süffisant zum Nachdenken ein.
Klar, der Stoff ist zeitlos: der Kampf von Gott und Teufel, Vernunft und Leidenschaft, Zivilisation und Barbarei. Eine Premiere mehr als ein Jahrhundert nach Erscheinen der Vorlage (1897) hat also ihre Berechtigung. Die Frage ist nur: Wie modern kann „Dracula“ sein? Von Handys, ICEs und E-Readern weit entfernt ist die Reise des Anwalts Jonathan Harker, der aus London zum gräflichen Klienten Dracula nach Transsylvanien fährt, um dessen Immobilienkauf in der britischen Metropole abzuwickeln.
Schnell ist klar: Das grandiose Spiel von Mosler, der sowohl die Figuren bedient als auch die Zuschauer mit Kommentaren versorgt, hält sich eng an die Vorlage: Sie beginnt mit Harkers Ankunft im Schloss des Grafen Dracula und geht weiter mit der Entdeckung, dass der Vampir-Graf tags in einer erdgefüllten Holzkiste schläft und in einer solchen schließlich mit dem Schiff nach England abreist. Dort treibt er nächtens sein Unwesen, das auch Harkers Verlobte Mina sowie deren Freundin Lucy und ihren Bräutigam Arthur Holmwood erfasst. Dass die Geschichte kaum Überraschungen bietet, macht umso neugieriger, was die Aufführung angeht. Die Figuren (Puppenbau und Bühne: Matthias Hänsel) verleihen den Charakteren Prägnanz. Weit aufgerissene Puppenaugen unterstreichen die Naivität Holmwoods, jede seiner dümmlichen Nachfragen bestätigt, was die Miene ausdrückt.
Am spannendsten aber sind die Frauenfiguren, die gegensätzlicher kaum sein könnten: Lucy, die geile Untote mit bemerkenswertem Dekolleté, und Mina, die brave Brünette, die von allen geliebt wird. Ganz in unschuldiges Weiß gekleidet (Kostüme: Jennifer Podehl) tänzelt Lucy als Schlafwandlerin am Abgrund, bis sie dem Vampir zum Opfer fällt und nur für kurze Zeit durch Bluttransfusionen (wunderbar: Rote Flüssigkeit fließt durch Schläuche in Puppenarme) vor dem Schicksal der Untoten gerettet werden kann. Während Lucy die Frau als Opfer ihrer Sexualität verkörpert, welche durch den Überfall des Vampirs endgültig Macht über sie gewinnt, ist Mina der Prototyp der schwachen, zu beschützenden Frau des späten 19. Jahrhunderts. Mit hausbackener Frisur begibt sie sich vertrauensvoll in die Hände des Vampirexperten Professor van Helsing, der als monologisierender Mansplainer den Kampf der Wissenschaft gegen Dracula verkörpert. Wunderbar sind die schaurigen Auftritte des Grafen – mit Abstand die größte Puppe, mit Glupschaugen und grünlicher Gesichtsfarbe.
Er huscht von Vorhang zu Vorhang, schreit und lacht, saugt mit lautem Schmatzen seine Opfer aus. Überhaupt: Knallen, Kreischen, Poltern – auf der Bühne ist mächtig was los. Mosler hält seine Puppen ständig in Aktion und beherrscht das stimmliche Wechselspiel der Figuren so überzeugend, dass man meint, in ihren starren Mienen lesen zu können. Die einfalls- und detailreiche Inszenierung von Philip Stemann (der auch für die sehr gelungene Live-Musik verantwortlich ist) verleiht der Gruselgeschichte Witz. Verpasst hat Stemann aber leider die Gelegenheit, „Dracula“ ins 21. Jahrhundert zu übersetzen. Für den Kampf von Aberglaube und Vernunft, die ewige Faszination des Abgründigen, die festgefahrenen Geschlechterrollen hätte man einige Anknüpfungspunkte finden können.
Auch Moslers Rolle als süffisanter Kommentator, die er am Anfang des Stücks einnimmt, hätte weiter ausgebaut werden können. Dann hätte der Vampir noch mehr der werden können, den Stoker im Sinn gehabt haben mag: Das düstere Wesen aus dem Untergrund, das solange nicht von den Menschen ablässt, wie sie sich vom Dunkel anziehen lassen.
Die nächsten Vorstellungen:
Sonnabend, 20. Oktober, Freitag, 26. Oktober, 20 Uhr, „Mensch, Puppe!“, Schildstr. 21, Bremen.