Krisenherde mit goldenen Rissen

Neustrukturierung des „World Press Photo Award“-Wettbewerbs schafft andere Blickwinkel.
Oldenburg – Seit dem Wochenende hängen sie wieder im Obergeschoss des Landesmuseums Oldenburg, die Siegerbilder des „World Press Photo Award“, die mit der Ausgabe 2021 bereits zum achten Mal in der Stadt Station machen. Kriege und Krisen, Unterdrückung, Vertreibung und Naturzerstörung – wie immer legen die 150 prämierten Bilder aus fast 65 000 Einsendungen einen Finger in die Wunden unserer Gesellschaft und den Fokus auf das, was falsch läuft in unserer Welt.
Doch dieses Mal ist einiges anders. Und das nicht nur weil „erfreulich wenig Coronabilder dabei sind“, konstatiert Oldenburg-Initiator Claus Spitzer-Ewersmann in Erinnerung an die Vorjahre mit eingeschränkten Besucherzahlen. Und auch nicht, weil das Siegerbild keine Menschen zeigt, übrigens zum ersten Mal seit 1955, und noch dazu von einer Frau stammt – auch das ist trotz der Bemühungen der Kommission, Fotografinnen ausdrücklich zum Einreichen von Bildern zu motivieren, keine Selbstverständlichkeit. Immerhin: Die Quote der Einsendungen von Fotografinnen ist in den vergangenen Jahren um fünf auf rund 20 Prozent gestiegen.
Die größte Neuerung ist viel offensichtlicher und manifestiert sich beispielsweise in den fast außerirdisch anmutenden Bildern von Yael Martinéz zur Opiumproduktion in seiner Heimat. Die fast monochromen Fotografien, in denen das vorherrschende Rot gleichermaßen Blut wie Leben symbolisiert, wie auch das Opium Todbringer und Lebensgrundlage für viele Familien zugleich bedeutet, durchziehen Kratzer und Nadelstiche. Diese nachträgliche Bearbeitung ist für den Mexikaner nicht nur ein anderes Narrativ der Gewalt – das Punktieren ist für den Magnum-Fotografen auch ein Ritual, das das Überwinden des gezeigten Ist-Zustands ermöglichen soll.
Zerrissene Fotos symbolisieren ein historisches Trauma
Ebenfalls auffällig nachträglich bearbeitet sind die „geflickten“ Bilder von Charinthorn Rachurutchata. Ihre Fotos von Studentenprotesten, aktuellen, aber auch Archivbildern vom Massaker 1976 in Bangkok, hat die thailändische Fotokünstlerin mit der traditionellen japanischen „Kintsuy“-Kunst bearbeitet, bei der die Fotos zerrissen und die Einzelteile mit Lack und Goldpulver wieder zusammengesetzt werden. Damit drückt sie die symbolische Hoffnung aus, das geschichtliche Trauma möge in einer besseren Zukunft münden „und aus Trauer Hoffnung zu machen.“
Und auch Rehab Eldalils Bilder eines Beduinenstamms, den die Ägypterin begleitete, wurden nachträglich künstlerisch bearbeitet, dieses Mal von den Protagonisten der Fotos. Die gestickten Motive aus der Community selbst, die die Einblicke ins Leben der Beduinen umrahmen, sind eine Art, die abgebildeten Menschen einzubinden.
Die nachträgliche Bearbeitung von Bildern war bis dato ein Ausschlusskriterium. Um Manipulationen auszuschließen und so dem hohen Anspruch des Preises gerecht zu werden, beschäftigt die Kommission sogar eine forensische Abteilung, die sämtliche zu prämierende Bilder auf Authentizität prüft – und mitunter sogar fündig wird. Nun sind die Bearbeitungen sogar erwünscht, und zwar in der neu geschaffenen Kategorie „Offenes Format“, das die Trennung zwischen Foto und Kunst aufhebt. „Viele Fotografen, das zeigen die Beispiele einiger, die vorher in konventionellen Kategorien und jetzt hier gewonnen haben, entwickeln – auch im Zuge fortschreitender technischer Möglichkeiten – ein zunehmend breiteres Spektrum des Storytellings“, erläutert Marika Cukrowski, Repräsentantin der World Press Photo Foundation. Diesen kreativeren Ansätzen soll das neue Format Rechnung tragen.
Einer, der mit seiner Reihe „The Book of Veles“ visuelle „Fake News“ explizit zum Zentrum seiner Arbeit macht, ist Jonas Bendiksen. Fasziniert von der Flut manipulierter Bilder nach Trumps Wahl zum US-Präsidenten, schlich er sich in Veles ein – einem Ort in Nordmakedonien, der zum Inbegriff einer ganzen Fälschungsmaschinerie geworden ist. Die Ergebnisse seines Selbstversuches, glaubwürdig erscheinende Bilder zu erstellen, bei denen nur die Landschafshintergründe echt, sämtliche Gegenstände und Menschen jedoch eingefügt sind, sind nun in Oldenburg zu sehen.
Neue Perspektiven statt westlicher Zentrierung
Verstärkt Stellung beziehen, andere Blickwinkel abbilden: Dies ist nicht nur das Ergebnis des neuen Formats, sondern eines Paradigmenwechsels beim World Press Photo Award. Unter der neuen Direktorin Joumana El Zein Khoury konnte ein Wandel vollzogen werden, der laut Cukrowski längst fällig war: Nämlich die stärkere Einbindung von Fotografen, die nicht von den großen Agenturen geschickt werden, sondern in ihren eigenen Regionen und Ländern agieren und somit eine ganz andere Perspektive mitbringen. Gemäß dem erstmals eingesetzten Konzept wirkt die Einteilung in sechs Regionen der Welt der bisherigen westlichen Zentrierung entgegen, „wir sind näher an den lokalen Geschichten“, erklärt Cukrowski.
Das schafft nicht nur neue Sichtweisen, sondern auch mehr Themen, die sonst in der Weltöffentlichkeit keine Beachtung finden. Ein Paradebeispiel hierfür ist das Pressebild des Jahres der Kanadierin Amber Bracken. Mit ihrem Foto eines Denkmals in Kamloops stellt sie ein trauriges Stück kanadischer Geschichte in den Fokus, das erst jüngst zur Gewissheit wurde. Die erste von der dortigen indigenen Bevölkerung in Auftrag gegebene strahlentechnische Untersuchung des Bodens bestätigte, was viele der von der Regierung vertriebenen und in „Residential Schools“ umerzogenen Menschen längst vermuteten: Bei der Umerziehung waren Hunderte Kinder ums Leben gekommen.
„Die Ergebnisse kamen ausgerechnet am letzten Tag einer Gerichtsverhandlung wegen des Landraubes der Regierung“, erinnert sich Snutetkwe Manuel, Initiatorin der Kamloops-Gedenkstätte; „sie nehmen uns unsere Sprache, unsere Kultur, unser Land.“ Die mit Kinderkleidung behängten Holzkreuze aufs Bild zu bannen, sei gar nicht so einfach gewesen, schildert Bracken, die zur Eröffnung nach Oldenburg gekommen war. Drei Tage versuchte die Kanadierin, einen Zugang zu der Stätte zwischen Autobahn und Graben zu finden – ausgerechnet bei einer Tour mit lokaler Begleitung riss die Sonne auf. Der Regenbogen, den sie als symbolträchtiges Zeichen der Hoffnung auf einen respektvolleren Umgang mit indigenen Völkern und mehr Toleranz fotografierte, stand nur wenige Momente am Himmel.
Auch wer keine Gelegenheit hatte, die Preisträgerin bei der Eröffnung zu erleben, muss nicht auf O-Töne verzichten: Interview-Ausschnitte zu vielen Fotografen, die per QR-Code mit dem eigenen Handy abrufbar sind, verleihen den Bildern zusätzliche Tiefe.
Die Ausstellung ist noch bis zum 2. April in Oldenburg zu sehen.
