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Nach dem Hundekot-Skandal an der Staatsoper Hannover

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Von: Jörg Worat

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Ab durchs Popcorn: Eine Szene aus der Produktion „Hello Earth“ vom früheren Ballett-Chef Marco Goecke.
Ab durchs Popcorn: Eine Szene aus der Produktion „Hello Earth“ vom früheren Ballett-Chef Marco Goecke. © Carlos Quezada

Der Staub hat sich gelegt: Nachdem Ballettdirektor Marco Goecke wegen einer Hundekot-Attacke auf eine Kritikerin die Staatsoper Hannover verlassen musste, stehen seine Stücke weiterhin auf dem Spielplan. So auch in „Glaube – Liebe – Hoffnung“ , jenem Ballettabend, dessen Premiere von Goeckes Attacke überschattet wurde.

Hannover – Es ist die zweite Aufführung eines Ballettabends in der Staatsoper Hannover, und zwar eines sehr speziellen: Bei der Premiere von „Glaube – Liebe – Hoffnung“ kam es zum Hundekot-Angriff des damaligen Ballettdirektors Marco Goecke auf eine Kritikerin – die Folge war ein großes Rauschen im Medienwald, Oper und Goecke trennten sich „im gegenseitigen Einvernehmen“, und Debatten brandeten auf, ob Goeckes eigene Choreografien weiter aufgeführt werden sollten. Das Nationaltheater Mannheim hat eine entsprechende Planung aktuell aus dem Programm genommen; in Hannover dagegen will man die Stücke weiter zeigen, so auch „Hello Earth“, ein Teil in „Glaube – Liebe – Hoffnung“. Nämlich der abschließende, wobei die Zuordnung zu den Schlagworten letztlich offenbleibt, denn welche der drei Choreografien sich auf welchen Begriff bezieht, ist schon unterschiedlich gedeutet worden. Was nicht zwingend gegen die Betitelung spricht – die Kunstform Tanz kann eben in ganz besonderem Maße assoziativ besetzt werden.

„MILK“ ist das neueste Stück des Abends

Jedenfalls eröffnet das einzige brandneue Stück des Abends den Reigen. Es heißt „MILK“ und stammt vom gebürtigen Korsen Guillaume Hulot, der schon lange in Deutschland wirkt. Inhaltlich stehen etliche Facetten des Themas Mutter-Kind-Beziehungen im Mittelpunkt, wobei das Programmheft entsprechende Stereotype beklagt und unter anderem behauptet, dass Mutterschaft nicht zwingend an ein biologisches Geschlecht gebunden sei (kennt die Welt eigentlich keine dringenderen Fragen?). Wie auch immer man dazu stehen mag, zu erleben ist eine Szenenfolge, deren Bandbreite der Musikauswahl entspricht – die besteht aus Mozart, der grönländischen Obertonsängerin Tanya Tagaq und „The Police“.

Einzelne Szenen sind durchaus hochinteressant, wobei das Grundthema schon durch die zum Teil höchst auffälligen Größenunterschiede bei den Ensemblemitgliedern angedeutet wird. Neoklassische Elemente sind hier nicht ausgeschlossen, es kann sich aber auch schon mal aus einem beiläufig-lässigen Wackeln mit dem Po eine komplexe Struktur entwickeln, und es kommt zu Momenten der Auseinandersetzung. Allerdings entstehen zulasten des Gesamtzusammenhangs oft harte Brüche zwischen den einzelnen Sequenzen.

Schwankende Hoffnung von Medhi Walerski

Wesentlich einheitlicher kommt „Sway“ des französischen Choreografen Medhi Walerski daher. Da sich das Stück erklärtermaßen auf die „Ode an die Hoffnung“ von Emily Dickinson bezieht, scheint die inhaltliche Zuordnung hier doch recht klar zu sein, und sie wäre zumindest gut nachvollziehbar: „Sway“ heißt „Schwanken“, die Hoffnung ist ein schwankend Ding, und auch das siebenköpfige Ensemble schwankt, soll heißen, entwickelt die Bewegungsformen in unterschiedlichen Konstellationen oft aus Kippbewegungen heraus. Sehr flüssig, das alles, und wegen der halbdunkel ausgeleuchteten Bühne mit einem reizvollen Hauch von Geheimnis versehen. An diesem Abend bekommt das Stück nicht weniger Applaus als der Headliner.

Der stammt, wie gesagt, von Goecke selbst, heißt „Hello Earth“ und wurde 2014 in Den Haag uraufgeführt. Die Bühne ist mit einem riesigen Herz aus Popcorn bestückt, das im weiteren Verlauf seine Grundform bis zur Unkenntlichkeit einbüßt, weil die zwölf Tänzerinnen und Tänzer auf unterschiedliche Weise hindurchpflügen – eine witzige Kontrastwirkung, bringt man mit diesem Knabberzeug doch eher eine entspannte Betrachtung in Verbindung, und gerade dazu besteht bei Goecke bekanntlich keinerlei Anlass.

Glaube – Liebe – Hoffnung: „MILK“ Sofie Vervaecke.
Auch die Choreografie „MILK“ gehört zum Ballettabend. © Carlos Quezada

Indes wirkt die Choreografie nicht so hypernervös wie andere seiner Stücke. Ja, es gibt die rasanten Passagen, es gibt das typische Flattern und Flirren, und es gibt diese eigenartigen Duette, bei denen gekonnt aneinander vorbei getanzt wird oder eine Figur die Bewegungen der anderen zu steuern scheint. Es gibt aber auch eine gewisse Lockerheit, humorvolle Passagen, die, etwa bei den Abgängen in den Bühnenhintergrund, an einen alten Stummfilm erinnern können, der etwas zu schnell abgespielt wird. Die Musik setzt sich aus charakterlich sehr unterschiedlichen Sätzen von Benjamin Britten und Soundkaskaden der US-amerikanischen Performerin Diamanda Galás zusammen – einmal mehr fällt auf, wie hervorragend das hannoversche Ensemble auf kleinste Elemente der Klangkulisse reagieren kann. Im zweiten Teil verliert die Aufführung allerdings an Spannung.

Der anschließende Applaus ist vehement, aber nicht annähernd so überschwänglich, wie man das vor Ort gerade bei Goecke-Stücken schon erlebt hat. An mangelndem Besucherzuspruch kann das nicht gelegen haben: Die Vorstellung ist ausverkauft, und konnte man vorher auch lesen, dass einige Tanzfreunde das Haus aus Protest vor Goeckes Choreografie verlassen wollten, waren in der entsprechenden Pause nicht signifikant mehr Abgänge zu beobachten, als das bei Veranstaltungen in Theater oder Oper ohnehin üblich ist.

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