Ailtons Tränen auf der Toilette

Bremen - Erst Mladen Krstajic, dann Ailton – es war ein Schalker Doppelschock, der Werder Bremen vor zehn Jahren mehr als nur erschütterte.
Binnen zwei Tagen verkündete der damalige S04-Manager Rudi Assauer zunächst den Wechsel des serbischen Innenverteidigers zum Saisonende und nur 24 Stunden später auch den Transfer von Ailton. Der Jubel über das 5:3 gegen den VfL Wolfsburg und die gerade zurückeroberte Tabellenspitze ging über in einen Aufschrei der Empörung.
Zielscheibe war Assauer, der angeblich hinter dem Rücken der Werder-Bosse die Spieler wegschnappte. „Wut und Zorn“ empfand Trainer Thomas Schaaf. „Ein Gefühl der Ohnmacht“ beschlich Sportdirektor Klaus Allofs, der klagte: „Wenn so einer kommt, sind wir zerstörbar.“ Später musste Werders damaliger Aufsichtsratsboss Franz Böhmert zugeben, dass er Assauers Andeutungen nicht ernst genommen hatte.
Und „Toni“ Ailton? Er merkte bald, dass er einen Fehler gemacht hatte und weinte – in der Kabine, im Bett, auf der Toilette. Zehn Jahre danach traf sich unser Redakteur Carsten Sander mit Ailton (40) zum Rückblick auf den „vielleicht großen Fehler“ seiner Profi-Karriere.
Lieber Ailton, was war damals in Sie gefahren, als Torjäger des aktuellen Spitzenreiters einen Vertrag beim Tabellenzehnten zu unterschreiben?
Ailton: Ich weiß es nicht. Es war auch eine sehr schwere Entscheidung. Vielleicht war es ein Fehler, dass ich nicht länger nachgedacht habe.
Wie lange denn?
Ailton: Oh, das ging so schnell. Nach dem Spiel gegen Wolfsburg – ich glaube, ich hatte zwei Tore geschossen – hatte ich eine Verabredung mit Assauer. Ich habe mit ihm über Schalke gesprochen, danach sollte ich mich entscheiden. Er ist mit dem Ziel gekommen: Heute unterschreibt Ailton bei Schalke. Es war wie ein – wie sagt man auf Deutsch . . .?
. . . wie ein Überfall?
Ailton: Genau! Ich habe dann drei Tage überlegt, habe viel mit meiner Familie geredet, mit Freunden, mit meinem Berater – und dann habe ich Ja gesagt. Heute würde ich sicher nicht nur drei Tage nachdenken, sondern mindestens einen Monat.
Und würden wie entscheiden?
Ailton: Also, wenn Du jetzt Rudi Assauer wärst und ich Ailton, dann würde ich Dir sagen: Fahr’ wieder nach Hause.
Damals haben Sie unterschrieben, und es folgte eine öffentliche Aufregung, die gewaltig war.
Ailton (lacht): Stimmt, da gab es ein paar Tage Turbulenzen in den Zeitungen.
Und im Verein?
Ailton: Ich habe mit Thomas Schaaf gesprochen. Er hat gesagt: ,Ailton, du wechselst zum FC Schalke – egal. Aber du musst hier weiter konzentriert sein und Tore schießen.‘ Ich habe gesagt: ,Thomas, mein Herz ist bei Werder Bremen, mein Kopf ist bei Werder Bremen, mein Körper ist bei Werder Bremen. Das ist kein Thema. Ich konzentriere mich weiter und werde mit Werder Bremen Deutscher Meister.‘ So habe ich das mit Thomas Schaaf besprochen.
Meister sind Sie geworden – und haben dann hemmungslos in den Armen von Schaaf geweint.
Ailton: Ach, ich habe viel geweint in den Monaten bis zum Saisonende. Zu Hause, allein in der Kabine, auf der Toilette – und immer wieder habe ich mich gefragt: Warum nach Schalke? Warum nach Schalke?
Vielleicht weil Sie dort vier Millionen Euro statt 1,9 bei Werder verdienen konnten?
Ailton: Es war nicht nur das Geld. Es gab auch andere Gründe.
Welche? War Assauer einfach schneller als Allofs?
Ailton: Nein, nein, über die Gründe kann ich auch zehn Jahre danach nicht sprechen.
Aber darüber, dass Sie Ihre Entscheidung mehr als einmal bereuten. Haben Sie während der Saison versucht, den Wechsel rückgängig zu machen?
Ailton (lacht): Ich nicht. Aber mein Berater. Er hat versucht, Assauer einen anderen Brasilianer anzubieten, damit ich in Bremen bleiben kann. Aber Assauer hat nur gesagt: ,Wir sind hier in Deutschland. da gilt ein Handschlag.‘ Ich habe aufgegeben und gesagt: Okay, dann gehe ich im Sommer zu Schalke. Schade, denn wenn ich in Bremen geblieben wäre, hätten wir vielleicht noch einen Titel geholt, ich wäre vielleicht noch mal Torschützenkönig geworden. Aber mir ist es ergangen, wie vielen anderen Spielern auch, die eine falsche Entscheiung oder eine Entscheidung viel zu schnell getroffen haben.
Was haben Sie gefühlt, als Sie Werder dann im Mai 2004 als Double-Sieger verließen?
Ailton: Es tat weh. Das Schlimmste war nicht, den SV Werder, die Stadt oder die Fans zu verlassen – sondern, dass ich weg musste von dieser tollen Mannschaft. Ehrlich, wir waren alle Freunde, wie eine Familie. Und Ailton wurde so akzeptiert, wie er ist. Danach hatte ich immer viel Stress – mit Trainern, mit Mannschaften. Deshalb bin ich auch oft gewechselt, es war keine Ruhe mehr in meinem Spiel. Vielleicht war es der große Fehler meiner Karriere, Werder zu verlassen. Hier steht mein Name immer noch ganz weit oben, und die Leute lieben mich. Mein Herz gehört dem SV Werder Bremen – früher und heute. · csa