„Unterernährt und überbelegt“

Sandbostel - Von Guido Menker. Auf den Tag genau vor 70 Jahren ist das Lager Sandbostel von der britischen Armee befreit worden. Anlass genug für eine Gedenkveranstaltung auf dem Friedhof sowie im ehemaligen Lager Sandbostel, an der auch Überlebende von damals teilnehmen. Im Interview mit der Rotenburger Kreiszeitung spricht Andreas Ehresmann über die Geschichte des Lagers. Der 50-Jährige ist Leiter der Gedenkstätte Lager Sandbostel und Geschäftsführer der gleichnamigen Stiftung.
Herr Ehresmann, wann und warum ist eigentlich das Lager Sandbostel entstanden?
Andreas Ehresmann: Das Kriegsgefangenenlager Sandbostel ist noch vor Beginn des Zweiten Weltkrieges errichtet worden. Der Bauplan, den wir haben, ist von August 1939. Es ist in Vorbereitung des Zweiten Weltkrieges hier errichtet worden, weil Sandbostel mitten im ehemaligen Wehrkreis 10 liegt – das heißt, von hier aus in alle Richtungen die Kriegsgefangenen zu Arbeitseinsätzen geschickt werden konnten. Und gerade die Arbeitseinsätze sind das Wesensmerkmal von Kriegsgefangenenlagern. Letztendlich war die deutsche männliche Bevölkerung im Krieg und musste durch Kriegsgefangene ersetzt werden – dementsprechend war das die Hauptaufgabe und damit die Motivation, weswegen gerade hier das Lager errichtet wurde. Dazu kommt, dass der Standort einige Faktoren bietet, die nach Heeresbauordnung vorgesehen waren. Das bedeutet, es war hier minderwertiger Boden, es gab keinen Bewuchs, eine dünn besiedelte Gegend, und es gab in der Nähe mehrere Bahnhöfe, sodass die Gefangenen mit Zügen hierher gebracht werden konnten.
Welche Größe hatte das Lager ursprünglich?
Ehresmann: Das Lager hatte eine Ausdehnung von 500 mal 700 Metern, also 35 Hektar. Und es war mit insgesamt mehr als 150 Gebäuden sehr eng bebaut, vorgesehen eigentlich mal für 10000 Kriegsgefangene, doch dann ist die Kapazität auf 30000 erweitert worden, die zeitgleich untergebracht werden sollten.
Wie viele Menschen sind durch das Lager gegangen?
Ehresmann: Nach unseren bisherigen Forschungen können wir insgesamt 313000 Menschen nachweisen, die hier durch dieses Lager gegangen sind – in verschiedenen Formen, also als Kriegsgefangene, als Internierte und Militärinternierte.
Woher kamen sie?
Ehresmann: Letztendlich aus der ganzen Welt. Nach unseren Forschungen haben wir die Gefangenen mittlerweile 55 Nationen zuordnen können.
Gab es bei der Behandlung der Menschen Unterschiede?
Ehresmann: Es gab deutliche Unterschiede. Zunächst einmal muss man sagen, dass zu dieser Zeit die Genfer Konventionen vom Deutschen Reich durchaus ratifiziert wurden, das heißt auch formal für die Kriegsgefangenen galten, die hier im Lager gefangen waren. Es wurde systematisch dagegen verstoßen, aber formal galten sie.
In welchen Fällen wurde dagegen verstoßen, gab es Gefangene bestimmter Nationen, die besonders darunter litten?
Ehresmann: Gerade bei Ernährung und Unterbringung ist bei allen dagegen verstoßen worden. Es ist grundsätzlich unterernährt und überbelegt worden. Aber es gab als herausragende Gruppe die sowjetischen Kriegsgefangenen, die hier im Oktober 1941 in das Lager kamen. Der wurden sämtliche Rechte vorenthalten. Für sie gab es noch einmal schlechtere Bedingungen bei der Unterbringung, der Ernährung und in der medizinischen Versorgung.
Wie sah das Lagerleben in Sandbostel aus?
Ehresmann: Das ist teilweise schwer zu vermitteln, denn es gab hier durchaus ein kulturelles Leben, was nach dem Kriegsvölkerrecht zugestanden wurde. Wir haben hier Aufnahmen und Dokumente über kulturelles Leben, wie ein Lagerorchester und eine Theatergruppe, es gab Sportveranstaltungen, Lagerbibliotheken, Religionen waren zulässig, und auch dort gab es große Veranstaltungen und Gottesdienste. Parallel dazu muss man sehen, dass es auf der einen Seite eine extreme Mangelernährung für alle gab, und Zaun an Zaun noch einmal die sowjetischen Kriegsgefangenen, denen das alles vorenthalten wurde. Das sind vielschichtige Ebenen, die zu betrachten sind. Im Grunde lässt sich sagen, dass es Zaun an Zaun zeitgleich zwei komplett verschiedene Realitäten gab.
Ist eigentlich die Zahl der Toten bekannt?
Ehresmann: Die Zahl ist bis heute nicht geklärt. Ich glaube, sie wird sich auch nicht klären lassen. Vom jetzigen Ansatz her sagen wir, dass nach dem heutigen Stand 4697 sowjetische Kriegsgefangene und etwa 500 Kriegsgefangene aus anderen Ländern hier gestorben und auf dem Lagerfriedhof bestattet sind. Hinzu kommen etwa 3000 KZ-Häftlinge, die hier in der kurzen Schlussphase ebenfalls ihr Leben verloren haben. Darüber hinaus gehen wir davon aus, dass es deutlich mehr sind, aber wir können keine Zahlen benennen.
Woran sind die Gefangenen gestorben?
Ehresmann: Das ist ganz unterschiedlich. Ein großer Faktor waren die Infektionskrankheiten. Viele sicher auch an Entkräftung und Auszehrung sowie Erschöpfung und Unterernährung. Ein Teil ist auch durch Gewalt der Wachmannschaften gestorben.
Wie viele Menschen waren als Wachpersonal eingesetzt?
Ehresmann: Das war genau vorgeschrieben. Es gab zunächst die Kommandatur, den Kommandostab und das Offizierskorps. Die eigentliche Wachinstanz waren Landesschützenbataillone, also nicht frontverwendungstaugliche Soldaten. Das waren etwa 130, die hier in der Anfangszeit eingesetzt waren. Später waren es mehr. Hinzu kamen die Wachmannschaften, die bei den Arbeitskommandos eingesetzt wurden. Wir schätzen, dass hier im Laufe der Zeit etwa 5000 Soldaten bei der Bewachung eingesetzt waren. Wir können heute ungefähr 550 von ihnen aus der Anfangszeit namentlich nachweisen.
Was ist mit dem Lager nach der Befreiung vom 29. April 1945 passiert, wie ist es in den Jahren danach weitergegangen?
Ehresmann: Nachdem die britische Armee das Lager befreit hatte, war die erste Aufgabe, erst einmal die befreiten KZ-Häftlinge vor allem medizinisch zu versorgen und zu retten. Dann ist das Lager relativ schnell in die Internierungslagerplanung der britischen Armee einbezogen worden. Vorher hatte es die Überlegung gegeben, es vollständig niederzubrennen. Das ist gestoppt worden. Es ist nur der Teil niedergebrannt worden, in dem die KZ-Häftlinge untergebracht waren – aus Angst vor Typhus. Die anderen Teile sind dann als Internierungslager genutzt worden. Das heißt, hier sind SS-Angehörige interniert worden, die auf ihre Gerichtsverfahren gewartet haben. Das sind etwa 5000 SS-Männer gewesen.
Wie lange war es ein Internierungslager?
Ehresmann: Das ging bis 1948. Im Februar beziehungsweise März war es wieder leer, weil alle, die im Spruchgerichtsverfahren verurteilt wurden, aus dem Lager herauskamen. In den meisten Fällen ist durch die Internierungslagerhaft die Strafe abgegolten gewesen. Im August 1948 ist es dann endgültig geschlossen worden. Es ist anschließend von der niedersächsischen Justiz als Strafgefangenenlager übernommen worden. Das war es bis 1952. Danach ist es als Durchgangslager für männliche, jugendliche, unbegleitete Flüchtlinge aus der DDR genutzt worden. Etwa 250000 Jugendliche haben über Sandbostel ihren Weg in den Westen genommen.
Bis wann wurde es als solches genutzt?
Ehresmann: Bis 1960, also noch vor dem Bau der Mauer ist dieses Lager aufgelöst worden. Man hat es noch bis 1963 als leerstehendes Lager vorrätig gehalten. Anschließend nutzte die Bundeswehr das Lager als Materialdepot. 1974 wurde es schließlich privatisiert und somit an lokale Gewerbetreibende veräußert, die hier ihre Betriebe errichtet haben.
Welcher Teil der ursprünglichen Fläche wird heute für die Gedenkstätte genutzt?
Ehresmann: Für die Gedenkstätte wird etwa ein Zehntel des ehemaligen Areals genutzt. Heute sind 3,5 Hektar im Stiftungsbesitz.
Wenn man den Bestand der Gedenkstätte betrachtet: Gibt es in Deutschland etwas Vergleichbares?
Ehresmann: Es gibt natürlich relativ viele Gedenkstätten. In der Regel an Standorten ehemaliger Konzentrationslager. Es gibt noch vier weitere Gedenkstätten an Standorten ehemaliger Kriegsgefangenenlager. Was aber sicherlich für Sandbostel einmalig ist, ist der Holzbarackenbestand. Wir haben hier ein Ensemble von sieben parallel gereihten Unterkunftsbaracken. Die sind begehbar, man kann sich drinnen umschauen. Das ist sehr bemerkenswert. Darüber hinaus machen wir in der Gedenkstätte eine umfangreiche gedenkstätten-pädagogische Arbeit. Das ist, glaube ich, schon sehr herausragend. Es kommen viele Schulklassen aus dem gesamten Elbe-Weser-Dreieck nach Sandbostel, um hier an Projekttagen zu arbeiten und die Geschichte zu erforschen. Und das, um auch die Jugend für Erinnerungskultur anzusprechen.
Wir sitzen hier in der sogenannten gelben Baracke, in der ein Teil der Ausstellung untergebracht ist – nämlich der über das Kriegsgefangenenlager. Die ist sehr klar strukturiert. Was durchlaufen wir, wenn wir uns diese Ausstellung ansehen?
Ehresmann: Zunächst gibt es einen Eingangsbereich, wo eine sehr kurze Darstellung über die gesamte Geschichte geboten wird. Dann gibt es weitere vertiefende Themenräume, wo thematisch die Geschichte des Ortes dargestellt wird. Angefangen mit dem Kriegsgefangenenwesen, den Wachmannschaften und dem Aufbau des Lagers, dann folgen ein Bereich, in dem es um den Alltag der Gefangenen geht, ein weiterer Raum, wo wir herausragende Gruppen darstellen. Insbesondere das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen, die als besonders betroffene Gruppe noch einmal gewürdigt wird. Es folgt der sehr wichtige Bereich Arbeit. Wir haben dort auch eine Computerstation, an der wir alle uns bekannten Arbeitskommandos darstellen. Bisher sind es 1100. Es kommt dann ein großer Einschnitt in der Geschichte des Lagers, nämlich die Ankunft der KZ-Häftlinge aus dem KZ Neuengamme. Abschließend geht es um die Befreiung des Lagers und eine Bilanz.
Was bekommt der Besucher hier zu sehen?
Ehresmann: Zunächst einmal als wichtigstes Exponat oder Zeugnis die historische Bausubstanz. Es sind elf historische Gebäude erhalten. Neun aus der Kriegszeit, zwei aus der frühen Nachkriegszeit, die aber auch sehr wichtig sind, weil wir diese Zeit ebenfalls darstellen wollen. Darüber hinaus haben wir zwei Dauerausstellungen eingerichtet. Einmal zur Geschichte des Kriegsgefangenenlagers und der KZ-Häftlinge bis hin zur Befreiung des Lagers. Die zweite Ausstellung beginnt mit der Befreiung des Lagers und stellt die gesamte Nachnutzung dar. Dazu kommen mehrere andere Gebäude, die besichtigt werden können. Es gibt überall Begleitinformationen zu einzelnen Themenbereichen. Man kann sich hier umfangreich informieren.
Wie viele kommen denn pro Jahr zu Ihnen?
Ehresmann: Wir hatten in den ersten zwei Jahren kontinuierlich etwa 12500 Besucher pro Jahr. Das ist für eine kleine Gedenkstätte viel. Davon sind etwa Dreiviertel Schulklassen aus dem gesamten Elbe-Weser-Dreieck, aber natürlich hauptsächlich aus der Region. Alles andere sind Einzelbesucher oder andere Besuchsgruppen, wie Heimatvereine oder sonstige Verbände. Was ich bemerkenswert finde ist, dass kaum noch reguläre Informationsrundgänge abgefragt werden. Es geht wirklich vor allem um Projektarbeit und um Studientage, also verschiedenste gedenkstättenpädagogische Formate, die wir anbieten, bei denen sich die Jugendlichen intensiv mit der Geschichte auseinandersetzen und nicht nur Input bekommen.
Erst vor zwei Jahren haben Sie hier die Gedenkstätte eröffnet. Warum hat es so lange gedauert, bis es dazu kam?
Ehresmann: Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre begannen erste lokalgeschichtlich interessierte Menschen, nachzufragen. Was war hier? Ihnen ist die irgendwie komische Struktur aufgefallen. Sie haben also angefangen nachzufragen und die Geschichte aufzuarbeiten sowie dazu zu forschen. Es gab schon zunächst Vorbehalte und Ablehnung. Man hat letztendlich den ehemaligen Lagerfriedhof heute als Kriegsgräberstätte. Der ist als Gedenkort würdig gestaltet. Auf diesen Ort wurde hingewiesen. Hier sei jetzt das Gewerbegebiet, hier möge man doch alles ruhen lassen. Das hat lange Zeit so als Status funktioniert. Letztendlich gab es dann 2004 eine größere öffentliche kontroverse Auseinandersetzung, in deren Folge dann vom Land Niedersachsen Moderatoren eingesetzt wurden, die vor Ort in vielen Gesprächen die Parteien und Gruppen an einen Tisch gebracht haben, die dann Ende 2004 die Stiftung Lager Sandbostel gegründet haben - mit dem erklärten Ziel, hier eine Gedenkstätte einzurichten. 2005 wurde daraufhin ein erstes kleines Teilgrundstück erworben. Mit zum damaligen Zeitpunkt neun historischen Gebäuden. Das waren aber erst einmal stark zerfallene Gebäude, das Gelände war komplett zugewuchert. Die ersten ehrenamtlichen Arbeiten bestanden darin, das Gelände freizulegen. 2007 sind wir dann mit einer provisorischen Gedenkstätte auf das historische Lagerareal gezogen. Vorher gab es eine Gedenkstätte in Bremervörde. Jetzt waren wir hier in Sandbostel und haben begonnen zu arbeiten. Wir haben eine Gedenkstättenkonzeption erstellt, Mittel eingeworben und angefangen, die Gebäude zu sichern und zu sanieren sowie schlussendlich die neue Ausstellung zu erarbeiten. Das heißt, wir haben vor Ort schon länger gearbeitet, 2013 ist dann offiziell die Gedenkstätte eröffnet worden.
Die Idee von dieser Gedenkstätte, ist also nicht von Anfang an auf fruchtbaren Boden gefallen. Wie wird sie heute akzeptiert?
Ehresmann: Mittlerweile ist die Gedenkstätte auch in der Region eine anerkannte Einrichtung. Wir haben viele Besucher mittlerweile von Menschen aus der Region, die hier wohnen und mit Besuch und Freunden hierher kommen und es sich ansehen. Sicherlich war es sehr wichtig, überhaupt in den historischen Ort zu kommen, um zu verdeutlichen, dass wir die Geschichte – soweit das geht – objektiv aufarbeiten und alle Facetten des Ortes darstellen wollen. Es war sehr wichtig, das vermitteln zu können. Das heißt auch, wenn Leute kommen und uns ihre Geschichten erzählen, nehmen wir die auf und diese wahr. Das hat viel zur Akzeptanz beigetragen. Zudem ist auch deutlich geworden, dass wir hier eine sehr gute und umfassende gedenkstättenpädagogische Arbeit betreiben, womit wir den Ort auch den Jugendlichen vermitteln.
Zur Person: Andreas Ehresmann ist 50 Jahre alt, hat zunächst Architektur, später noch Politik und Geschichte studiert. Er leitet die Gedenkstätte Lager Sandbostel und hat seit 207 an der Konzeption mitgearbeitet.