NS-Geschichte zum Anfassen in Sandbostel

Sandbostel/Kassel - In der Erde wühlen macht ihr Spaß. „Ich bin total neugierig, was da stecken könnte und will mal Paläontologin werden, um nach Fossilien zu graben“, sagt Jasmin Hann. Jetzt hockt die 16-Jährige auf dem Gelände des ehemaligen NS-Kriegsgefangenenlagers Sandbostel und legt mit der Handschaufel die Fundamente einer alten Baracke frei. Über die Jahrzehnte hat sich die Natur das Areal zurückerobert und alte Mauerreste mit einer teils bis zu 30 Zentimeter dicken Vegetation überwuchert. Mit ihr arbeiten auf dem Gelände der Gedenkstätte derzeit 22 Jugendliche aus sieben Nationen an archäologischen Grabungen.
Sandbostel ist eines von 59 internationalen Workcamps in vielen Ländern Europas, die in diesem Jahr vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge organisiert werden. Immer geht es dabei um die praktische Pflege von Kriegsgräbern und Gedenkstätten. Aber auch die inhaltliche Auseinandersetzung mit Fragen des Friedens und eines toleranten Miteinanders ist wichtig. „Hier in Sandbostel kannst du bei den Grabungen und bei Sanierungsarbeiten in den Baracken Geschichte berühren“, sagt Daria Antonova aus dem nordrussischen Archangelsk.
Die 24-jährige Studentin spricht perfekt Deutsch und war schon mehrfach in Sandbostel, diesmal ist sie als Leiterin des Workcamps hier. Sandbostel ist bundesweit das einzige NS-Kriegsgefangenen- und KZ-Auffanglager, in dem viele historische Gebäude noch erhalten sind. Während des Zweiten Weltkrieges zählte es zu den größten Kriegsgefangenenlagern der Wehrmacht und ist in besonderer Weise mit der Heimat von Daria Antonova verbunden. Denn die russischen Gefangenen zählten im Lager Sandbostel zusammen mit den Franzosen zur größten Gruppe, wurden besonders schlecht behandelt. „Hier lässt sich viel über Ungleichbehandlung lernen“, ist Gedenkstättenleiter Andreas Ehresmann überzeugt.
Für die Jugendlichen aus Russland, der Ukraine, Dänemark, Ungarn, Rumänien, der Türkei und Deutschland geht es aber nicht nur um das Lernen. „Ich treffe hier neue Leute“, so Jasmin Hann. Und für den 17-jährigen Berliner Linus Kameni verbinden sich im Workcamp soziales Engagement und Spaß.
„Die Camps sind Treffpunkte für junge Menschen, die gemeinsam Botschaften für ein friedlich-tolerantes Miteinander entwickeln und die Erinnerungskulturen Europas mit gestalten“, sagt Volksbund-Koordinator Konstantin Dittrich in Kassel. Die Teilnehmer leisteten außerdem einen wichtigen Beitrag zur würdigen Gestaltung und zum Erhalt von Gräbern als Mahnmale gegen Krieg und Gewaltherrschaft.
„Politik ist das eine – was wir hier machen, ist etwas anderes“, hat Daria Antonova dabei erfahren. Ein Beispiel dafür sind für sie die Teilnehmenden aus Russland und der Ukraine, die in Sandbostel Seite an Seite arbeiten, obwohl im Osten der Ukraine Soldaten aus ihren Heimatländern gegeneinander kämpfen.
Dass Sandbostel ein Ort ist, an dem so viele Russen leiden mussten, tut Daria Antonova weh. Aber Hass auf die Deutschen habe sie nicht. „Das ist jetzt eine andere Zeit“, meint die Camp-Leiterin. „Wir reden gemeinsam über den Frieden, setzen uns dafür praktisch ein und erkennen, dass wir gleiche Bedürfnisse und Interessen haben – und Freunde sein können.“
Hintergrund:
Im September 1939 richtete die Wehrmacht das Kriegsgefangenen-Mannschafts-Stammlager (Stalag) XB im niedersächsischen Sandbostel ein. Auf einem 35 Hektar großen Gelände mit mehr als 150 Baracken sollten bis zu 30.000 Kriegsgefangene untergebracht werden. Es war damit eines der größten Lager dieser Art der Wehrmacht überhaupt. Bis zur Befreiung durch britische Soldaten am 29. April 1945 durchliefen nach bisherigen Recherchen 313.000 Kriegsgefangene, Zivil- und Militärinternierte aus mehr als 55 Nationen das Lager. Mindestens 5200 Kriegsgefangene starben durch Hunger, Seuchen, Erschöpfung und Gewalt. Noch kurz vor der Befreiung kamen rund 9.500 Häftlinge aus dem Konzentrationslager Neuengamme und seinen Außenlagern nach Sandbostel. Mehr als 3000 von ihnen starben während des Transports, im Lager und in den ersten Wochen nach der Befreiung.
Nach der Befreiung errichteten die Briten in Sandbostel ein Internierungslager für Angehörige der Waffen-SS. Später wurde es als Strafgefängnis, als Notaufnahmelager für männliche jugendliche DDR-Flüchtlinge und als Bundeswehrdepot genutzt. 1973 übernahm die Gemeinde Sandbostel das Gelände und wies es als Gewerbegebiet „Immenhain“ aus, das in Teilen immer noch besteht. Mittlerweile gibt es dort eine Gedenkstätte.