„Eben noch Jasmin gelesen“

Walsrode - Roger Willemsen in der Walsroder Stadthalle. Was von den Niedersächsischen Musiktagen als hochkarätiger Abend angekündigt worden war, entpuppte sich auf den ersten Blick zunächst einmal als lang. Das Programm war trotz dreistündiger Dauer so voll gepackt, dass manch ein älterer Besucher am Sonnabend Mühe hatte, dem Schnellsprecher zu folgen.
Brillant gespielte Musikstücke und Filmsequenzen wechselten sich mit temporeichen Lesungen und Moderationen ab. Alles unter dem Motto „Zeit“.
„Wir haben keine Zeit. Wir haben alle keine Zeit. Wenn wir Zuschauerinnen und Zuhörer haben, müssen wir sie festsetzen in einem Saal wie in Walsrode und ihnen das Gefühl eines raumzeitlichen Schutzraumes geben.“ Mit diesen Worten eröffnete der bekannte Autor den Abend. Später hieß es: „Eben noch ‚Jasmin‘ gelesen, die Zeitschrift für das Leben zu zweit. Schon sieht man ‚Mosaik‘, die Sendung für die ältere Generation. Das gibt es beides nicht mehr.“
Weitere Fragmente über die Geschwindigkeit folgen, immer wieder unterbrochen von Musik, anfangs klassisch, dargeboten von Maria Mazo, einer 1982 in Moskau geborenen begnadeten Pianistin, im Wechsel mit einem polnischen Streichquartett, dem Interface Quartett. Später spielte das erstklassige Ingolf Burkhardt Quintett. Burkhardt ist Solotrompeter der NDR-Big-Band und bei internationalen Jazzproduktionen gefragt. Am Sonnabend trat er mit einer Formation auf, die einfach Klasse hatte. Das galt auch für das Zusammenwirken mit der Jazzsängerin Anja Ritterbusch, die den Scat perfekt beherrscht. Und auch der Percussionist Hakim Ludin erntete für seine Performance viel Beifall.
Zwischendurch raste Willemsen mit rasanter Geschwindigkeit durch Hölderlins „Jüngling“, und zwar so schnell, dass er selbst kaum noch Atem holen konnte. Was das wohl bringen soll, fragte sich sicherlich der eine oder andere Besucher.
Dann waren Fragmente des historischen Filmdokuments „Geschwindigkeit“ von Edgar Reitz zu sehen. Die angekündigte Live-Begleitung durch das Ingolf Burkhardt Quintett fiel wohl dem hohen Tempo des langen Abends zum Opfer. Auch Willemsen, der das Programm speziell für den Abend in Walsrode zusammengestellt hatte, ging es wohl etwas zu schnell an. Sahen ihm die Zuhörer die Versprecher noch nach, so zeigte er sich im Laufe des Abends schneller – oder langsamer – als die historischen Fundstücke, die er vortrug. So fuhr der erste Zug von Nürnberg nach Fürth bei Roger Willemsen erst 1935 statt tatsächlich 1835. Was er in seiner Anmoderation des Abends bemängelt hatte, das holte ihn jetzt selbst ein. Weniger ist wohl doch mehr, oder?
Trotzdem gab es am Ende für den Autor und das Ensemble reichlich Beifall für die große intellektuelle Leistung des Autors und für die begleitenden Künstler. Ein anspruchsvoller Abend war es allemal. · hf