Als die Romantik das Drama begrub

Von Johannes Bruggaier (Eig. Ber.) · Robert wer? Ja, ganz recht: Guiskard. Der große Klassiker, Heinrich von Kleists „Entdeckung“ des modernen Trauerspiels, von Christoph Martin Wieland einst als Vereinigung der „Geister des Äschylus, Sophokles und Shakespeare“ bejubelt.
Was muss das für ein Werk gewesen sein, auf dessen Veröffentlichung ein Mann wie Wieland den Autor so stürmisch drängte! „Und wenn der ganze Kaukasus und Atlas auf Sie drückte“, flehte er einst seinen Freund an: „Sie müssen Ihren Guiskard vollenden.“
Kleist folgte ihm nicht. In einem Pariser Hotelzimmer steckte er das Manuskript in Brand. Heute ist „Robert Guiskard“ bloß ein Fragment, lächerliche 18 Seiten in der Kleist-Gesamtausgabe, man hat Mühe, sie überhaupt zu finden.
Frank Hoffmanns Einrichtung dieser paar Zeilen für das Deutsche Schauspielhaus muss zwangsläufig eine Feier des Scheiterns sein: des Scheiterns eines Dramas und des Scheiterns seiner Inszenierung. Warum also überhaupt aufführen? Dazu noch mit Starbesetzung? Weil im Scheitern immer auch eine Erkenntnis liegt. In diesem Fall – jetzt wird‘s kompliziert – ist es die Erkenntnis, nichts erkennen zu können. Und: Es ist damit auch so etwas wie eine ästhetische Erklärung der Romantik.
Heinrich von Kleist höchstselbst (Wolfram Koch) feilt in seinem kleinen Hotelzimmer am immer gleichen Satz. „Die Leiche seines ganzen…“ Nein: „Die Leiche seines…“ Nochmal: „Die, äh, Leiche…“ Verzagt klammert er sich an sein Tischchen. Ganz einsam sieht er aus neben dem Miniatur-Bett vor der gähnenden schwarzen Leere des Bühnenraumes. Das kann nichts mehr werden mit diesem Satz, die Worte zerbröseln ihm im Mund. Und woran das liegt, dämmert dem Dichter bald selbst: daran, dass die Dramatik der Aufklärung an ihr Ende gelangt ist. „Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten“, knurrt Kleist ins Publikum, „so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün.“ Was immer wir zu erkennen glauben: Es steht letztlich auf dem schwankenden Boden unserer Sinneswahrnehmungen.
Zu erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält, ist unter diesen Bedingungen unmöglich. Und das klassische Drama, das mit dem deiktischen Hilfsmittel der Schaubühne auf diesen Erkenntnisgewinn ausgerichtet ist, hat ausgedient. Weshalb Kleist zur Kerze greift und seine Papiere mitsamt dem unvollendeten Satz in Flammen aufgehen lässt.
Das Drama ist vernichtet. Es beginnt: das Drama. Oder das, was von ihm übrig geblieben ist, also das Fragment „Robert Guiskard“. Feuer lodert auf dem kahlen Boden, den links und rechts eine verglaste Galerie begrenzt (Bühne: Stefan Mayer). Schwerbepackt ächzt eine dunkle Gestalt durch die Nachtschwärze zu einem sargähnlichen Trog, wirft ihre Ladung hinein. Eine Leiche? Schnell huscht die Unbekannte hinter die Glasscheibe auf der linken Seite. Ein vermummter Soldat erscheint, schüttet einen Kanister Benzin in den Kasten aus, hält ein Streichholz daran. Wo eben noch Manuskripte brannten, stehen nun die Toten der Pest von Konstantinopel in Flammen.
Mitten durch diese apokalyptische Landschaft, stakst Heinrich von Kleist. Er ist jetzt Teilnehmer seines eigenen, soeben vernichteten Theaterstücks: Darsteller des Normännerprinzen Abälard. Ein Greis (Mathieu Carrière) tritt als Abgesandter des Volkes an ihn heran, möchte wissen, wie es dem Herzog der Normänner geht. Der Kleist-Abälard sagt ihm die Wahrheit: dass der Herzog an der Pest erkrankt ist. Dass das Dunkle über das Helle gesiegt hat, der Held dem Dämon unterlegen ist. Dass die Romantik über die Klassik siegt, sagt er nicht – darauf verweist allein Hoffmanns raffinierter Einsatz von Kleist als Normännerprinz.
Da betritt plötzlich Robert Guiskard (Thomas Thieme) selbst die Szene, ein fülliger Machtmensch im weißen Gewand. Es ist, als kehre das weiße Licht der Aufklärung kurzzeitig ins Dunkel zurück. Von wegen pestkrank, poltert er: Eine kleine Grippe sei das, nicht mehr und nicht weniger! Überhaupt: „Und wär‘s die Pest auch – an diesem Knochen nagt sie selbst sich krank.“
Für wenige Minuten sind Greis und Volk erleichtert. Doch dann wankt der vermeintlich kraftstrotzende Herrscher, taumelt unbeholfen über die Bühne. „Willst du – ?“, stammelt die Herzogin (Irene Kugler) leise. „Begehrst du – ?“, stottert der Sohn (Sören Wunderlich). „Fehlt dir – ?“, ruft Abälard. Da fängt sich der Herzog wieder, murmelt verlegen etwas vor sich hin und schleicht langsam nach hinten von der Bühne. Gerade als er die Bühnenrückwand erreicht, fährt sie auch schon zum Schnürboden empor und gibt den Blick auf ein gigantisches Gemälde frei: Caspar David Friedrichs „Eismeer“, Symbol der Hochromantik schlechthin. Das war‘s auch schon.
Nein, das kurze Stückchen ist zweifellos nicht geeignet, ins Repertoire des modernen Sprechtheaters aufgenommen zu werden. Und doch ist Hoffmann und seinem durchweg überzeugenden Ensemble eine spannende Exkursion in weitgehend unerforschte Gefilde der Dramenliteratur geglückt. Es ist eine flüchtige Skizze des Ringens um dramatische Formen, und der Niedergang der deutschen Sprechbühnen in der Romantik findet in ihr seine Begründung. Ob die Vernichtung des Manuskripts wirklich zu bedauern ist, erscheint angesichts des aufgezeigten Widerspruchs von Erkenntnisdrang und Wahrnehmungsgrenzen zweifelhaft: Kleist hatte für das kleine Feuer im Hotel wohl seine Gründe.
Weitere Vorstellungen: am 15. September und 7. Oktober, jeweils um 20 Uhr im Deutschen Schauspielhaus.